„Dass ihr Physiker immer so einen Wind macht, ich hab’s euch vorgerechnet. Mit der neuen Technik kann Energie in eine andere Welt geschickt werden. Und es beweist, dass die Hinweise aus Wien korrekt waren. Gebt mir lieber ein paar experimentelle Eckpunkte aus der Technik. Da sind noch viele Unbekannte im System. Ich krieg die Struktur nicht zusammen“, maulte Marie.
Sie fuhr fort: „Außerdem ist mir bei der Sache unwohl. Was ist da am anderen Ende? Da, wo die Energie ankommt? Wir müssen mehr wissen.“
„Marie, lass uns unseren Wind!“, kam es von Pierre zurück, „wir wissen: Entweder hast du Recht oder machst uns an, weil wir nicht nachkommen, doch wir mögen dich trotzdem.“
Geniè hakte nach: „Was ist eigentlich mit dem so unumstößlichen Energieerhaltungssatz, den ihr Physiker immer anbetet? Was bitte, wird aus den 1,5 GW? Das ist die Leistung von rund 200 Lokomotiven.“
Aber die Physiker hörten nicht zu. Aus Lodovico klang ein wenig der Ingenieur: „Kannst du das Zielvolumen um den Faktor Tausend verkleinern?“
Pierre antwortete: „Nicht ganz, die Wandleraustritte sind zu groß. Auch fürchte ich um die Platinringe an den Auslässen. Wir können mal schauen, wann das System bricht. Aber wenn die von der EDF wegen der Netzspitze meckern, ist das deine Sache.“
„Hab ich dir noch gar nicht gesagt, derartige Spitzen werden jetzt in den Nebenkanal des Kühlwassers abgeleitet. Bei der Energiemenge wird eine kräftige Dampfwolke entstehen“, merkte Lodo an.
Pierre positionierte die Kameras für den Deckenscreen nach. Langsam reduzierte er das Volumen. Die Energie verschwand nach wie vor. Plötzlich war der Raum von dem weißen Deckenscreen in hellstes Licht getaucht. Da war mehr Wasser verdampft als erwartet. Lodos Ableiter schienen zu funktionieren. Die in Fessenheim würden wahrscheinlich wieder die Feuerwehr wegen der plötzlichen weißen Wolken verrückt machen. „Ich telefonier mal eben“, meinte Lodo und verschwand. Die Dampfwolke war ja auf seine Initiative erzeugt worden. So musste er die Sache wieder klar ziehen.
Geniè fasste sachlich zusammen: „Offensichtlich könnt ihr Energie verschwinden lassen. Da müsst ihr mir und dem Rest der Welt einiges erklären. Wir wissen: Der Weg funktioniert grundsätzlich. Marie kann das in Ansätzen berechnen. Pierre liefert die experimentelle Verifikation. Wir sind auf dem Weg in eine neue Welt. Entweder in dieses Energieloch oder das Zeitalter, in dem der Energieerhaltungssatz nicht mehr gilt. Letzteres scheint mir unwahrscheinlich. Kannst Du die Aufzeichnungen bitte ab 10 MW nochmals gemütlich laufen lassen?“
Gemeinsam genossen sie noch einmal das Experiment. Sie hatten einen Weg gefunden, da waren sie sich sicher. Da war Energie, und nicht wenig Energie, spurlos aus ihrem Universum verschwunden. Durch dieses Tor mussten sie durch.
20 Der Lounge Chair von Charles und Ray Eames ist eine besondere Form des englischen Clubsessels im Design von 1956.
21 EDF = Électricité de France SA (EDF) marktbeherrschende französische Elektrizitätsgesellschaft, vornehmlich in Staatsbesitz.
8 Sokrates
Doch dann war da noch Sokrates, aber das war nur sein Spitzname. Er arbeitete an einem Buch ‚Die Theorie des Denkens konfrontiert mit praktischen Beispielen‘. Das schien ziemlich langweilig. Mit seinen Vorlesungen und Seminaren an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, ehemals nur Zürich, gehörte er zu den Randfiguren des wissenschaftlichen Betriebs. Ihm war es recht, nicht im Zentrum zu stehen.
Zu La Ferme hatte er aufgrund seiner beruflichen Arbeit einen gewissen Abstand und konnte auf diese Art so etwas wie das Gewissen von La Ferme sein. Er war an ihr Netz angeschlossen und verfolgte ihre Tätigkeiten. Einerseits wurde er als Mitglied von allen geschätzt und mit ihm gern und häufig gefeiert, andererseits war die Gruppe für ihn eines der Beispiele, welches er in seinem Buch dokumentierte. Als externer Beobachter und zugleich Mitglied des Systems wechselte er permanent die Rollen. Hier konnte er eine Menge interessanter Beobachtungen machen. In letzter Zeit war das immer schwieriger geworden, da die Arbeiten zunehmend geheimer wurden.
Der Ruf von Pierre, zum Experiment mit dem MF_02 zu kommen, hatte ihn zeitgleich mit den anderen erreicht. Er weilte aber gerade in St. Gallen am dortigen Malik Management Zentrum, um Ansätze von Denktheorien in Business-Modellen zu diskutieren. Es ging um das Erbe von Stafford Beer22 im Dunstkreis des vernetzten Denkens. Sokrates konnte sich nur die Aufzeichnungen des Experimentes anschauen. Marie und Pierre hatten sich sofort nach dem Versuch bei ihm gemeldet.
‚Immer diese Nichtdenker‘, hatte er geseufzt, ‚rennen einfach in der Weltgeschichte los ohne über die Richtung und ihr Handeln auch nur einen Gedanken zu verschwenden.‘
Nach seiner Rückkehr musste er unbedingt mit ihnen reden. Offensichtlich war, dass wieder ein reflexiver Abend angesagt war.
Experimentieren was das Zeug hergab. Er konnte das verstehen. Aber intelligente Menschen sollten zunächst denken und dann handeln. Es war nicht das erste Mal.
Vor einiger Zeit hatte er ihnen eine alte, defekte Uhr geschenkt, um die Temperamente in Spur zu bringen. Die Zeiger waren entfernt und auf das Zifferblatt hatte er vier Worte geschrieben: Erkennen, denken, handeln, lernen. Dann kam die nächste Runde. Es mussten ja nicht zwölf Stunden sein, aber wieder in die Reihenfolge ‚erkennen, denken, handeln, lernen‘.
Sie waren wie Kinder. Manchmal benahmen sie sich dumm wie die meisten Politiker. Erst Denken und dann Handeln waren da recht selten. Lernen kam nicht vor. Unmengen von Energie in was auch immer für ein X-Loch zu schicken! Hoffentlich blieb sie wo auch immer. Ein gegrilltes Fessenheim war nicht sein Geschmack.
„Ist euch eigentlich auch nur annäherungsweise klar, welchen Weg ihr eingeschlagen habt?“ begann Sokrates das Thema.
Sie saßen gemütlich um den offen Kamin, in dem trockenes Buchenholz alles für eine warm leuchtende Flamme gab. Draußen war es heute viel zu kalt. Die Klimaveränderung hatte zu absurden Wetterumschlägen im Vergleich zu fünfzig oder mehr Jahren geführt. Ja, da war es wieder: Denkt erst über die (möglichen) Zusammenhänge nach. Sie nannten Sokrates nicht umsonst Sokrates. Er war derjenige, der an einfachen Beispielen das aktuelle Handeln mit vielen Fragezeichen versah. So auch jetzt.
„Wenn das, was Marie und Pierre mir berichtet haben, was das letzte Experiment andeutet, auch nur in Teilen wahr ist, wird das Grundgefüge der Physik erschüttert. Einstein, Hawking und viele andere haben Pflöcke in die Geschichte der Wissenschaft gerammt. Ihr geht darüber hinaus. Ihr brecht die Tür zu neuen Wirklichkeiten auf. Oder soll ich sagen, ihr habt die Tür eingetreten?
Wir wissen nicht, was uns erwartet. Das kann für Systeme, auch für unseres, im Extremfall tödlich sein. Ihr habt alle in eurer Jugend Vesters23 kybernetische und andere Simulationen gespielt. Wie war denn eure Erfolgsquote bei einer primitiven Welt?
Schaut doch mal, wie primitiv unsere Welt ist! Und die andere Welt? Was ist mit der Welt hinter der Tür? Kann die mit uns umgehen, können wir mit ihr umgehen oder gibt es für eine von uns oder beide eine tödliche Katastrophe?
Allgemeiner gefragt: Woher nehmt ihr eigentlich das Recht, neue Dinge zu erforschen? Auch diese Tradition kann hinterfragt werden!
Seit über hundert Jahren gibt es Nobelpreise für Entdeckungen, das heißt Expeditionen in unbekannte Welten. Aber was ist, wenn wir in eine Welt gelangen, die uns umbringt? Die Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn und andere, für die es 1944 einen Nobelpreis gab, zeigt, dass neue Erkenntnisse mehr Schatten als Licht bringen können. Lest die Geschichtsbücher: Hiroshima, Nagasaki, Tschernobyl, Fukushima, Teheran, Korea. Klassische Entdecker haben Millionen von Menschen auf dem Gewissen: Denkt an die Seuchen, die die Spanier den Azteken gebracht haben. Weiter: Das ursprüngliche, ökologische System Australiens wurde durch ein paar Kaninchen zerstört. Und Ihr? Wollt Ihr als die ersten Vernichter fremder Welten in die Wissenschaftsgeschichte eingehen?“
Obwohl