1 Vgl. Kreiß 2015, Gekaufte Forschung, S.22ff.
2 Vgl. zum Folgenden „Die Welt“ vom 16.12.2015 https://www.welt.de/geschichte/article150014809/Gegen-diesen-Skandal-ist-VWs-Dieselgate-ein-Klacks.html vgl. auch wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/General_Motors_streetcar_conspiracy
3 Vgl. Kreiß 2014, Geplanter Verschleiß und https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_P._Sloan Stand 19.5.2020
Das Grundschema oder die Sechs-Schritte-Strategie ins Verderben
Die Tabakindustrie lieferte die Blaupause, wie man am besten vorgeht, um Wissenschaft systematisch zu kaufen und zu missbrauchen. Es sind sechs gut dokumentierte Schritte, um besonders erfolgreich zu sein:
1. Auswahl besonders vielversprechender, industrienaher (Nachwuchs-) Wissenschaftler: Suche Dir industrienahe Wissenschaftler, die die Weltanschauung der Konzerne teilen. Die gibt es immer. Bei Wissenschaftlern sind oft Ruf, Ansehen und Ehrgeiz oder Eitelkeit viel wichtiger als Geld und Macht. Wissenschaftler sind daher oft nicht besonders teuer.
2. Fördern der besonders industrienahen Forscher: Erhöhe die Bedeutung der handverlesenen Wissenschaftler durch großzügige Finanzierung ihrer Institute, fördere Kongressbesuche und unterstütze ihre Publikationen. Fördere ihre wissenschaftliche Reputation, so dass sie Meinungsführer werden.
3. Maximale Intransparenz herstellen und/oder Geheimhalten der Verbindungen zur Industrie: Möglichst wenig Worte über die Verbindungen dieser Wissenschaftler zur Industrie verlieren, um nicht ihre Glaubwürdigkeit zu schwächen. In der Regel ist aber selbst dann, wenn es herauskommt, der Imageschaden minimal. Zu jedem Argument findet sich ein Gegenargument.
4. Gewünschte Ergebnisse sicherstellen: Über Manipulation und Datenmassage in Form von geeigneter Datenauswahl geht fast alles. Ergebnisse nur dann fälschen, wenn es gar nicht anders geht. Der Imageschaden bei offenen Fälschungen ist normalerweise minimal. Kunden und die Öffentlichkeit haben ein kurzes Gedächtnis. Keine Sorge vor PR-Schaden.
5. Confounder einführen und Fehlfährten legen: Versuche mit möglichst vielen Studien vom springenden Punkt abzulenken und die Diskussion auf Nebenaspekte hinzuführen. Man nennt das „Confounder“ bzw. Verwirrfaktoren einführen. Funktioniert praktisch immer.
6. Verzögern politischer Gegenmaßnahmen. Paralyse durch Analyse: Sorge für Gegenstudien, die Konfusion erzeugen und sage, die Wissenschaft ist sich noch nicht einig, es ist alles noch in der Diskussion und wir brauchen noch viel zusätzliche Forschung, bevor politische Entscheidungen über rechtliche Rahmenbedingungen getroffen werden können. Spiele auf Zeit. Man nennt das Verzögerungstaktik oder Paralyse durch Analyse.
Diese Sechs-Schritte-Strategie funktioniert erstaunlich gut. Fast alle Industriebranchen haben die Strategie schon vielfach angewandt. Sie funktioniert eigentlich immer. Ein Blick in die Industriebranchen heute zeigt: Die Strategie wird ganz oder teilweise praktisch überall und ständig angewandt: Big Food, Big Soda, Zuckerindustrie, Banken, Versicherungen, Pharmaindustrie, Chemieindustrie, Öl, Energie, Flugindustrie, Dieselskandal, Gesundheit, Kosmetik, Alkohol, Internet, Facebook, Amazon usw. usw. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass das Schema praktisch flächendeckend angewandt wird. Hat man es einmal begriffen, ist es sehr leicht zu durchschauen. Man hat dann sehr häufig Aha-Erlebnisse.
Hintergrund
Ob Corona, Feinstaub-Grenzwerte, Diesel-Kat-Nachrüstung, Glyphosat, Zucker, Cholesterin, Kaffee, Medikamente, Impfungen, Weichmacher, Klimaerwärmung, Medienkonsum von Kindern: Über fast alle Lebensbereiche des Alltags werden mittlerweile teils erbitterte Meinungsschlachten geführt. Und praktisch immer wird die Wissenschaft als Kronzeuge ins Feld geführt. Gerade heute, in Zeiten von fake news, wäre daher eine objektive Wissenschaft wichtiger denn je. Was steckt hinter diesen Entwicklungen?
Der March for Science im April 2017
Am 22. April 2017 ereignete sich etwas sehr Ungewöhnliches: Mehr als eine Million Menschen, unter ihnen viele Wissenschaftler, gingen in über 450 Orten weltweit für die Freiheit der Wissenschaft demonstrieren. Das hatte es davor noch nie gegeben. Sie protestierten gegen entstellte, von der Politik missbrauchte Wissenschaft. Sie forderten stattdessen eine Wissenschaft, die auf Erkenntnissen beruht und dadurch der Öffentlichkeit dient. Die Protestierenden trugen Transparente mit sich mit Slogans wie: “Wissenschaft dient der Allgemeinheit“ oder “Die Wahrheit erforschen rettet die Welt“.
Was war geschehen? Wie kam es, dass so viele Wissenschaftler unzufrieden waren? Der Stanford-Professor Robert Proctor fasste es in folgende Worte: „Es gibt eine breite Wahrnehmung unter den Wissenschaftlern von Angriffen auf die Idee der Wahrheit, die der Wissenschaft heilig ist“.4
Der Marsch der Forscher zielte auf den Missbrauch der Wissenschaft durch die Politik. Ausgelöst wurde er vor allem durch Donald Trump. Der Protest war nur zu berechtigt. Die Geschichte zeigt, wie Diktatoren und Autokraten die Freiheit der Forschung ihren zerstörerischen Zielen opfern. Aber auch heute ist diese Verletzung der Wissenschaftsfreiheit durch Politiker weitverbreitet und vor allem: Sie nimmt rasant zu.
Die Freiheit der Wissenschaft wird aber nicht nur durch Übergriffe von Politikern, sondern auch von Absatz- und Finanzinteressen bedroht. Und das ist Gegenstand des vorliegenden Buches. In den öffentlichen Medien-Diskussionen entscheiden immer häufiger die wissenschaftlichen Ergebnisse, die ins Feld geführt werden. Und so tobt ein immer stärker werdender Kampf um Wissenschaft und Glaubwürdigkeit.
Aus „Im Namen Gottes“ wurde „Im Namen der Wissenschaft“
Hintergrund für diesen Kampf ist eine dramatische geistige Wende in den letzten vielleicht 120 Jahren. Im 19. Jahrhundert war der Einfluss von Religion, Normen und Tradition unvergleichlich viel größer auf Gesetzgebung, Wirtschaft und das Alltagsleben als heute. Im dem Maße, in dem der Einfluss der traditionellen Werte und der Kirchen unter der Wucht des heraufziehenden materialistisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes zerschlagen wurde, in dem Maße wuchs die Bedeutung der Wissenschaft. Sie blieb zuletzt weitgehend das letzte Fundament, auf das sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen über Weltanschauungs-, politische oder religiöse Differenzen hinweg noch verständigen konnten. Viele Gesetze, Regelungen oder Richtlinien brauchen heute zwingend eine Begründung durch die Wissenschaft. Wir sehen eine bahnbrechende, säkulare Wende. Aus: “Im Namen Gottes“ wurde: “Im Namen der Wissenschaft“. In den letzten vier bis sechs Generationen stieg die Bedeutung der Wissenschaft in einem Ausmaß, das vorher in westlichen Gesellschaften undenkbar war.
Aber gerade der phänomenale Siegeszug des materialistisch-naturwissenschaftlichen Denkens birgt die größte Gefahr gerade für die Wissenschaft selbst. Denn rein als Methode kann sie auf alles und jedes angewandt werden. Als Methode ist sie nur ein Instrument und kann als solches instrumentalisiert werden für beliebige Zwecke. Diktatoren und Autokraten können dieses Denken zum Bau von Brücken und Panzern benutzen. Konzerne können sie für ihre Zwecke missbrauchen. Und so birgt gerade der Epoche machende Siegeszug dieser Denkungsart die größten Gefahren für ihren Missbrauch.
So musste dieser umwälzende Jahrhunderttrend in einen Kampf um die Inhalte führen. Und so wurde schließlich mit etwas Verzögerung der Machtkampf