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„Der letzte Fleck auf Barros Weste ist der Ausraster auf dem Parkplatz vor drei Jahren. Ansonsten ist da leider nichts, Milo! Und gleichzeitig gilt er als einer der Aufsteiger in Vargas’ Organisation! Wie kann das sein?“
„Wäre doch nicht das erste Mal, dass jemand, der innerhalb des organisierten Verbrechens aufsteigt, sich nicht mehr selbst die Hände schmutzig macht, Jesse!“
„Und das im wahrsten Sinn des Worts, denn der Schmauchspurentest war ja negativ…“
„Er könnte natürlich die Waffe irgendwo anders als in seiner Wohnung deponiert und Latexhandschuhe beim Schuss getragen haben – aber das ist doch alles recht weit hergeholt, Jesse, Ray Barros mag ein Gangster sein, aber ich glaube mit dem Mord an O’Rourke hat er nichts zu tun.“
„Das einzige, was ihn im Moment noch mit dem Fall in Verbindung bringt ist Christin Vistano und die Herkunft ihrer Waffe. Die Rolle, die diese Lady in dem Fall spielt, durchschaue ich ehrlich gesagt noch nicht so recht.“
„Vielleicht sehen wir klarer, wenn wir den Mann auftreiben, der ihr nach Barros’ Aussage die Waffe verkauft hat.“
„Dann sehen wir auch, wie glaubwürdig Ray Barros ist!“, meinte ich.
Milo zuckte mit den Schultern. „Nicht unbedingt! Dieser Kenneth Jakobs wird doch alles abstreiten und es wird schwer sein, ihm irgendetwas zu beweisen.“
„Konzentrieren wir uns auf Gonzales.“
20
Wir erreichten die im sechsten Stock eines Brownstone-Hauses gelegene Mietwohnung von Donata Rivelli Gonzales.
Eine Frau in den Dreißigern öffnete uns. Zwei Jungs im Alter von sieben oder acht Jahren tobten auf dem Flur herum. Die Mittdreißigerin rief ihnen etwa auf Spanisch zu, woraufhin sie uns zunächst scheu ansahen und anschließend in einem Nebenraum verschwanden.
„Jesse Trevellian, FBI. Dies ist mein Kollege Milo Tucker?
„FBI? Madre de Dios! Ich habe nichts verbrochen! Was wollen Sie hier? Meine Jungs sind noch Kinder und…“
„Einen Moment, wir sind nicht hier, um Sie zu beschuldigen“, versicherte ich ihr. „Wir wollen nur unsere Fragen stellen und etwas abklären. Vielleicht können Sie uns dabei helfen.“
Sie musterte uns misstrauisch. „Helfen?“, fragte sie. „Wie sollte ich ihnen helfen?“
„Dürfen wir hereinkommen?“
„Kann ich mir Ihre Ausweise noch einmal ansehen?“
„Bitte!“
Ich gab ihr meine ID-Card. Sie betrachtete sie eingehend und gab sie mir anschließend zurück. „In Ordnung, kommen Sie ins Wohnzimmer. Aber beklagen Sie sich nicht darüber, dass hier nicht aufgeräumt ist! Das sind die Jungs gewesen!“
Wir folgten ihr ins Wohnzimmer. Abgesehen von ein paar Spielsachen, die auf dem Boden lagen, herrschte keineswegs Chaos. Die beiden Jungs spielten dort mit Autos und Action-Puppen.
„Hola Señor! Que tal?“, sprach mich einer der beiden an. „Eres un hombre de la policia?“
„Policia“, bestätigte ich.
„Es sind nicht meine Jungs, sondern die Söhne meiner Kusine Isabella, die gerade aus Puerto Rico hier angekommen ist. Die Jungs sprechen deshalb auch nur Spanisch, aber das wird sich rasch ändern sobald sie in der Schule. Solange Isabella einen Job sucht, lässt sie die Kinder bei mir. Ich habe mir extra Urlaub genommen.“
„Sie haben viel Familiensinn.“
„Man muss sich gegenseitig unterstützen – gerade wenn jemand neu in diese Stadt kommt. Für mich war es damals auch nicht einfach. Aber mein Großcousin Harry hat auf mich aufgepasst.“
„Harry Gonzales?“
„Si. Seine Großeltern waren schon hier in New York und seine Eltern haben ihm bei der Geburt einen Namen gegeben, der besser hier her passt.“
Ich holte ein Foto von Harry Gonzales hervor, um mich zu vergewissern, schließlich gab es allein New York vermutlich mehrere hundert Personen mit genau dieser Namenskombination. „Wir sprechen von diesem Mann hier, ja?“
Sie sah sich das Foto an, bei dem erkennbar war, dass es bei einer Verhaftung aufgenommen worden war. Ihr Blick wurde ernst.
„Tía Donata! Quiero beber!“, quengelte einer der Jungs.
„Du kannst gleich was trinken“, murmelte Donata Rivelli Gonzales und dabei bemerkte sie nicht einmal, dass sie Englisch sprach und der Junge sie gar nicht verstehen konnte. Sie ließ sich in einen der Wohnzimmersessel fallen.
Ihr Gesicht wirke kreideweiß.
„Was hat er getan? Warum wurde er verhaftet?“
„Das Bild ist schon älter und er wurde damals wegen eines Drogendelikts festgenommen. Im Augenblick suchen wir ihn als Zeugen in einem Mordfall.“
„Mord? Was hat Harry damit zu tun?“
„Ich sagte, wir suchen ihn als Zeugen, um mit ihm zu sprechen“, wiederholte ich, als ich merkte, dass meine Gesprächspartnerin mich offenbar missverstanden hatte.
Sie schluckte.
„Am zwölften dieses Monats um halb drei Uhr in der Nacht hat jemand von Ihrem Telefon aus in einem NYPD-Revier in Queens angerufen. War Harry zu dieser Zeit hier bei Ihnen?“
„Ja. Ich habe aber von dem Anruf nichts bemerkt. Warum er ausgerechnet mitten in der Nacht die Polizei verständigt hat, weiß ich nicht.“
„Wir nehmen an, dass er sich mit Lieutenant Brian O’Rourke treffen wollte.“
„Harry war für ein paar Tage hier. Ein paar üble Typen sind hinter ihm her. Aber es ist besser, wenn ich nicht darüber rede…“
„Sie sollten darüber reden!“, forderte ich.
Sie zögerte.
„Harry war also hier“, wiederholte Milo. „Wissen Sie, ob er nach dem Anruf das Haus verlassen hat?“
„Ich habe geschlafen und nichts mitbekommen. Aber als er am Morgen hier auftauchte, wusste ich, dass er nachts unterwegs gewesen war.“ Sie seufzte. „Madre de Dios y Jesús Christo! So oft habe ich ihm gesagt, er soll sich an die Polizei wenden. Das hat er dann ja wohl getan.“
„Der Kollege wurde am vermutlichen Treffpunkt erschossen“, stellte ich klar. „Und jetzt sagen Sie uns bitte, weshalb Harry die Polizei verständigen sollte!“
„Wegen den ‚Matadores’. Das war seine Gang. Es ging um Drogen und üble Geschäfte, drüben in der Bronx. Harry ist dort aufgewachsen und schon früh auf die schiefe Bahn gekommen.“ Sie blickte auf. „Diese Bastardos denken, dass Harry sie verraten hat! Dabei hat er Ehre und würde so etwas nie tun! Deswegen haben sie Harrys Mutter, seinen Vater und seine Schwester erschossen! Und ihn werden sie sich auch irgendwann holen, haben sie ihm angekündigt. Wenn er genug gelitten hätte…“
Nicht einmal Donata gegenüber, die ihm Unterschlupf gewährte, hatte Harry Dominguez offenbar zugegeben, dass er ein Polizeispitzel gewesen war!
Ich verzichtete darauf, es zu erwähnen. Schließlich war nicht abschätzbar, an wen Donata die Informationen – auch unbeabsichtigt – weiter gab – und das konnte für Harry Dominguez schließlich lebensgefährlich werden.
„Wissen Sie, wo Harry jetzt ist?“, fragte ich.
„Nein. Keine Ahnung. Seitdem die ‚Matadores’ ihn bedrohen, schläft er alle paar Tage irgendwo anders. Ich sagte ihm, die Polizei würde ihm helfen. Aber das wollte er nicht glauben.“