Der rosa Wolkenbruch. Dorothea Böhmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothea Böhmer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783749732678
Скачать книгу
in den Kinofilmen auf, die wir uns ansahen. Ich weiß nicht, ob ich Schwule vorher nicht wahrgenommen habe oder ob wir uns unbewusst zunehmend Kinofilme ausgesucht haben, die in irgendeiner Form mit dem Thema Männerliebe zu tun hatten.“ Julie kaute auf ihrer Unterlippe. „Wenn ich es genau überlege, hat Christian die Filme meistens ausgesucht.“

      „Warum ist dir das nicht aufgefallen“.

      „In manchen Filmen waren Schwule nur Randfiguren, aber dann waren auch Filme dabei wie Maurice, in denen es deutlich um Männerbeziehungen ging. Ich glaube, spätestens da habe ich kapiert, wie sehr das Thema Christian beschäftigt. Wir haben über die Filme gesprochen, aber nicht in Hinblick auf uns, sondern allgemein über die Intoleranz der Gesellschaft Schwulen gegenüber.“

      „Wann ging es wirklich los, was war der Auslöser, warum hat er sich zunehmend für Männer interessiert?“

      „Hm, schwer zu sagen. Latent hat er sich schon immer für Männer interessiert. Aber wann das Interesse zugenommen hat? Ich denke, es gab viele Kleinigkeiten, es war ein schleichender Wandel. Ich weiß es nicht.“

      Sophie schüttelte ihren Kopf missbilligend. „Ich glaube das Ganze trotzdem nicht. Ihr habt immer eine glückliche Beziehung gehabt, das konnte jeder sehen. Euer gesamter Freundeskreis war oft neidisch.“

      Julie sagte nichts.

      „Wenn er schwul ist, wieso hast du das nicht eher gemerkt? Wie war es denn im Bett, wann habt ihr das letzte Mal miteinander geschlafen?“

      Julie hob den Kopf: „Vor drei Tagen.“

      „Und wie oft habt ihr miteinander geschlafen?“

      „Spätestens alle zwei Tage.“

      „Siehst du“, triumphierend schlug Sophie mit der flachen Hand auf den Tisch. „Dann ist doch klar, dass der Wunsch homosexuell zu leben eine andere Ursache hat oder einfach ein Symbol für eine Krise zwischen euch ist.“

      Julie wünschte nichts sehnlicher, als dass Sophie Recht hatte. „Was meinst du damit?“

      „Hat sich seit eurer Heirat irgendetwas zwischen euch verändert.“

      „Sicher hat sich in den Jahren manches verändert, ich muss nachdenken.“

      „Lass dir Zeit, ich mache uns eine Suppe.“

      Sophie legte Musik auf, bevor sie Richtung Küche verschwand.

      Julie starrte in ihr Weinglas, im Hintergrund hörte sie Sophie in der Küche werkeln.

       12

      Schon kurz nach der Hochzeit fühlte sich Julie nicht mehr so frei wie vorher. Das hatte nichts mit Christian zu tun, sondern sie spürte Erwartungen der Familien an sich und ihn. Das Gefühl kroch hoch, ihr Leben sei gelaufen. Sie war verheiratet auf immer und ewig und musste eine Rolle erfüllen. Christian versicherte ihr wieder und wieder, es sei alles nur ihre Einbildung. Er selbst fühlte sich wohl, hatte er sich doch durch die Heirat von seinen Eltern abgegrenzt.

      Doch Christians Vater und Julies Mutter mischten sich zunehmend in das Leben der beiden ein. Spätestens jeden zweiten Tag meldete sich Christians Vater am Morgen per Telefon. Julie war jedes Mal sofort hellwach und saß dann kerzengerade im Bett. Da sie abends meistens lange bei einer Flasche Wein auf dem kleinen Balkon zusammen saßen, sich erzählten, anschließend im Bett noch lasen und sich liebten, wurde es immer sehr spät.

      „Lass es läuten.“ Christian war morgens nicht ansprechbar und konnte die Kontrollanrufe seines Vaters nicht leiden. Er wusste genau, sein Vater wollte nur überprüfen, ob sie schon aufgestanden waren. Soweit Christian zurückdenken konnte, hatte sein Vater, wenn er mal zu Hause war, versucht, ihn zum Frühaufsteher zu erziehen. Christian hatte keine Lust mehr, sich von seinen Eltern Vorschriften für sein Leben machen zu lassen.

      Aber Julie war unruhig, ging meist ans Telefon und versuchte, ihrer Stimme einen munteren Klang zu geben. Immer noch – oder inzwischen wieder? – dieser verflixte Zwang, jederzeit verfügbar sein zu müssen, der ständige Druck, es allen recht machen zu müssen.

      Die Gespräche mit Christians Vater liefen stets gleich ab und jedes Mal schwindelte sie. „Ja, wir sind schon lange auf. Christian ist in der Uni, ich sitze am Schreibtisch.“ Dabei war ihr einziger Wunsch, in den Hörer hineinzuschreien „Lass uns in Ruhe!“

      Julies Mutter meldete sich spätestens jeden dritten Tag am Abend. Egal ob Christian oder sie am Telefon war, am Anfang des Gesprächs ging es immer ums Essen.

      „Habt ihr auch warm gegessen?“ Wenn Julie am Hörer war, wurde sie konkreter: „Was hast du heute gekocht?“

      „Nichts, wir essen heute kalt.“

      „Das kannst du nicht machen, das ist ungesund. Du bist nur zu faul etwas zuzubereiten.“

      Oder Julie antwortete auf ihre Frage: „Nichts, Christian hat heute gekocht“, was ihre Mutter jedes Mal aus der Fassung brachte.

      Wenn ihre Mutter wusste, dass Christian Julie nicht hören konnte oder nicht zu Hause war, nahm das Gespräch eine andere Richtung:

      „Julie, willst du denn wirklich fertig studieren? Was bringt das denn? Christian will Kinder. Und es wäre für ihn schöner, wenn du ihn versorgen würdest.“

      In solchen Momenten hasste Julie ihre Mutter aus tiefstem Herzen. Sie fragte sich, ob ihre Mutter sie eigentlich kannte. Wusste sie etwas von Julies Wünschen und Plänen? Nahm sie überhaupt Anteil an dem was ihre Tochter tat? Hatte sie auch nur einmal gefragt, womit sich Julie während ihres Studiums beschäftigt hatte? Auch jetzt noch, Julies Arbeit, die Fotos, die Julie machte, interessierten sie überhaupt nicht. Am meisten ärgerte es Julie, dass ihre Mutter ihr ein Frauenbild aufzwingen wollte, welches sie selbst nie gelebt hatte. Ihre Mutter war Geschäftsfrau mit Leib und Seele und hatte ständig zu tun, weshalb Julie und ihre Geschwister mit Kindermädchen, Haushälterin und Putzfrau aufgewachsen waren. Julie konnte sich an keinerlei Zärtlichkeiten seitens der Mutter erinnern. Sie und ihre Geschwister wurden gut versorgt. Aber kannte ihre Mutter das Seelenleben ihrer Kinder? Vielleicht wollte Julie aus diesem Grund keine eigenen Kinder, sie hatte in ihrer Kindheit nie Liebe und Geborgenheit erfahren, dieses Gefühl, sich fallen lassen zu können. Wie sollte sie etwas geben, das sie selbst nie bekommen hatte?

      Christian stand in allem auf Julies Seite. Zwar wollte er gerne Kinder, aber es war ihm wichtiger, mit Julie zusammen zu sein. Und vielleicht würde sie irgendwann ihre Meinung ändern, vielleicht wenn er ihr alles geben konnte, was sie als Kind vermisst hatte. Und falls nicht, war das genauso in Ordnung.

      „Warum regst du dich auf, Julie. Du wirst deine Mutter nicht ändern. Wenn du es nicht zulässt, dass sie sich in dein Leben einmischt, kann sie sich nicht einmischen.“

      „Mich ärgert der indirekte Druck, den sie auf mich ausübt.“ Was hieß indirekt. Julie erinnerte sich daran, wie sie vor kurzem zu den Eltern fuhr, weil sie zur Geburtstagsfeier einer ehemaligen Schulfreundin eingeladen war. Die ganze Zeit hatte ihre Mutter sie gebeten, zu Hause zu bleiben, damit sie miteinander reden könnten. Und ich bin ihr auf den Leim gegangen, dachte Julie. Sie hatte ihr tatsächlich geglaubt. Natürlich wurde dann nur mit Hedwig gesprochen. Als Julie sie darauf hinwies, meinte ihre Mutter nur: „Ich wollte nicht, dass du ohne Christian zu der Feier gehst. Das macht keinen guten Eindruck, wenn man verheiratet ist.“

      Ähnlich erging es Christian. Es war Winter als seine Mutter mit ihm telefonierte: „Gestern hat ein Martin angerufen. Er wollte dich sprechen, weil er mit dir zum Skifahren gehen möchte. Aber ich habe gleich gesagt, das geht nicht, weil du keine Zeit mehr hast.“ Als Christian wissen wollte, ob Martin, ein Freund, den er vor zwei Jahren aus den Augen verloren hatte, ihr seine Nummer gegeben hätte, entgegnete sie nur: „Ja, aber ich habe sie nicht aufgeschrieben, du bist doch jetzt verheiratet. Es war irgendeine Vorwahl, die ich nicht gekannt habe.“

      Anstatt sich zu lösen, schlitterte Julie tiefer und tiefer in die Familien hinein. Christian erklärte immer wieder, es liege an ihr, und wenn sie nicht diesen ewigen Perfektionismus hätte, es allen recht machen zu wollen,