Der rosa Wolkenbruch. Dorothea Böhmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothea Böhmer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783749732678
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war, ob sie Weißwein oder Rotwein trank. Es ging nur um den Alkohol, der sie betäuben sollte, damit sie schlafen konnte. Julie zog eine Flasche aus dem Weinregal und registrierte, dass bloß noch zwei Flaschen vorrätig waren. Sie musste Nachschub besorgen.

      Längst konnte Julie ohne Alkohol nicht mehr abschalten, eine Flasche Wein pro Abend war inzwischen ihr Minimum. Als sie die Schubladen nach dem Korkenzieher durchwühlte, fiel ihr ein, dass er noch in ihrem Zimmer lag. Sie wusste, dass es ihr am nächsten Morgen schlecht sein würde. Und sie würde sich an der Küchenzeile entlang bis zum Schrank tasten, in dem die Schachtel mit dem Aspirin lag. Und während sich das Aspirin sprudelnd im Wasserglas auflöste, würde sie wie jeden Morgen denken, dass sie den Alkohol in ihrer jetzigen Situation eben brauchte. Sie suchte den Rausch, die Bewusstlosigkeit. Tod auf Zeit. Wenigstens stundenweise Erlösung. Mit einem Plopp zog sie den Korken aus der Flasche und goss sich ein Glas ein. Am Küchentisch starrte sie vor sich hin. Sie brauchte keine weitere Beschäftigung, sie wollte sich betrinken und dann wie ein Stein schlafen.

      Wo Christian wohl war? Ob er alleine war? Was war morgen zu tun? Sie fühlte sich einsam. Aber war nicht jeder Mensch einsam? Die meisten gaben es nur nicht zu. Deshalb stürzten sie sich in Abhängigkeiten und umgaben sich mit Pseudo-Sicherheiten. Sie heirateten und glaubten, dadurch vor Einsamkeit gefeit zu sein. Wie gut kannten sich Paare wirklich? Kannte sie Christian? Kannte er sie? Er kannte sie wahrscheinlich besser, weil er sich tiefer in die Beziehung eingelassen hatte. Sie hatte zu viel Familienballast mit in die Ehe geschleppt.

      Was war mit den Freunden und Freundinnen? Welche waren diejenigen, auf die sie sich verlassen konnte? Wer war bei ihr, wenn es ihr schlecht ging? Sophie natürlich. Und die anderen?

       18

      Julie hatte Musik eingelegt. Es war Sonntagmorgen und Christian war seit zwei Tagen in Paris. Die Sonne schien auf den hübsch gedeckten Frühstückstisch und ließ die Gläser funkeln. Um sich abzulenken und um nicht alleine zu sein, hatte sie Adrian, Christians Freund, der den verlorenen Ehering wieder gefunden hatte, und Martha, seine Frau, zum Frühstück eingeladen. Die Uhr zeigte bereits nach 10.00. Sie wollten eigentlich gegen 9.30 Uhr da sein. Kurz vor halb elf klingelte das Telefon. Es war Adrian.

      „Tut uns leid, bei uns ist es gestern etwas spät geworden. Wir fahren gleich los.“

      Julie hörte sich sagen: „Kein Problem.“ Natürlich war es kein Problem, aber Julie war zurzeit empfindlich. Christian schob sie weg, und Martha und Adrian verstanden nicht, wie gut es ihr getan hätte, wenn sie pünktlich gekommen wären. Schließlich wussten sie, was vorgefallen war. Plötzlich hatte Julie überhaupt keine Lust mehr, mit ihnen zu frühstücken. Warum hatte sie nicht einfach gesagt, dass sie jetzt verletzt war. Am liebsten hätte sie Adrian zurückgerufen und das gemeinsame Frühstück abgesagt. Jahrelang hatte sich Adrian bei ihr und Christian ausgeweint, weil er den Bruch mit seiner früheren Freundin nicht verkraftet hatte. Wie oft hatte er bei ihnen gegessen, und auch übernachtet, wenn er nicht in seine triste Wohnung zurück wollte, in der ihn alles an seine Verflossene erinnerte. Nein, Julie durfte nicht ungerecht sein, schließlich hatte sie ihn damals gerne aufgenommen, es hatte ihr Spaß gemacht, ihn zu versorgen und seelisch aufzupäppeln. Als er dann Martha kennen lernte, hatte er kaum noch Zeit für seine früheren Freunde und Freundinnen. Auch dafür hatte Julie Verständnis. Aber an diesem Morgen hätte sie Adrian das erste Mal gebraucht, und jetzt hatte sie kein Verständnis für sein Verhalten. Überhaupt kein Verständnis.

      Um halb zwölf standen sie vor der Tür, Martha einen Schritt hinter Adrian. Julie schüttete den abgestandenen Kaffee weg und brühte neuen auf. Als Adrian begann, von seinen Problemen zu sprechen, fühlte sich Julie noch einsamer als zuvor.

      „Julie, ich weiß nicht, ob du mich verstehst. Ich habe lange überlegt, ob wir zum Frühstücken kommen sollen. Ich will mich nicht zwischen einem von euch entscheiden müssen. Ihr seid beide meine Freunde. Ich will nicht zwischen euren Streitereien zerrieben werden.“

      Sie konnte es nicht leiden, wenn er mit dieser melodramatisch weinerlichen Stimme sprach. Julie öffnete eine Flasche Sekt und schenkte ein. Das Sektfrühstück diente als Ausrede untertags Alkohol zu trinken.

      „Welche Streitigkeiten meinst du? Es gab und gibt keine. Wenn Christian schwul ist, bleibt uns, also ihm und mir, nichts anderes übrig, als gemeinsam die Konsequenzen zu ziehen. Du musst dich am allerwenigsten zwischen irgendetwas oder irgendjemanden entscheiden.“

      Adrian hatte noch kein einziges Mal gefragt, wie es ihr ging. Martha hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts. Sie war sein hübscher Schatten. Julie fragte sich, ob Martha glücklich war. Mit ihren großen dunklen Augen, und weil sie nur selten sprach, wirkte sie immer etwas depressiv auf Julie, aber sie hatte sie gerne.

      Mit gesundem Appetit nahm sich Adrian ein drittes Stück Kuchen. Er isst noch genauso viel wie früher, dachte Julie.

      „Weißt du“, wieder diese weinerliche Stimme, „Christian hat mit mir über Dinge gesprochen, die er nicht einmal dir anvertraut hat.“ Dann warf er sich in die Brust. „So etwas wird bei uns nie vorkommen“, er tätschelte Marthas Hand.

      Julie spürte die Worte wie Faustschläge in der Magengrube. Martha saß still, griff verlegen zu ihrem Glas Sekt und blickte auf ihren Teller.

      Sie hat Adrians Taktlosigkeit bemerkt, dachte Julie. Die beiden taten ihr nicht gut. Obwohl sie noch keine halbe Stunde hier waren, kam es Julie wie eine Ewigkeit vor. Von den nächsten zwei Stunden behielt sie nichts in Erinnerung. Adrian begann irgendwann einen Monolog über Karriere und Familie, während Julie die ganze Zeit über Christian nachsann. Ob er an sie dachte? Nein, bestimmt nicht. Er entdeckte seine neue Welt. Während sie überlegte, schaffte sie es gleichzeitig, durch einfache Fragen, das Gespräch am Laufen zu halten.

      „Martha, wie siehst du die Berufspläne von Adrian?“

      „Ich …“ Martha schloss den Mund als ihr Adrian ins Wort fiel.

      „Ich und Martha haben alles besprochen. Es ist wichtig, dass sie für mich da ist, um mir den Rücken frei zu halten. Ich habe mir das so gedacht …“ Adrian schwang wieder eine seiner Reden, Martha hing am Sektglas und Julies Gedanken schweiften nach Paris. Sie dankte dem Himmel, als ihr Besuch endlich aufbrach.

      ***

      In der Nacht wachte Julie von ihren eigenen Schreien auf. Sie hatte geträumt, dass sie in ein schwarzes Loch, eine Art tiefen Brunnen gestürzt war; sie fiel und fiel und fiel und fiel in die Dunkelheit. Julie schwitzte vor Angst und konnte nicht mehr einschlafen.

      Wann Christian wohl zurückkommen würde? Im Grunde war es egal, denn er würde nur in die Wohnung zurückkehren, nicht zu ihr. Dieses sinnlose Aufstehen jeden Morgen, um sinnlose Tätigkeiten auszuführen, um Geld zu verdienen, mit dem man sich sinnlose Dinge leisten konnte. Sie wünschte sich, tot zu sein, alles hinter sich zu haben. Julie knipste das Licht an und ging an ihr Bücherregal, um die zwei alten, dünnen Büchlein mit dem dunkelgrünen Leineneinband zu suchen, die sie der hübschen Pflanzenzeichnungen wegen vor Jahren gemeinsam mit Christian auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Ihre Fingerspitzen glitten über die Buchrücken, sie wusste genau wie die Bücher aussahen, denn sie hatte sie erst beim Umräumen der Zimmer in der Hand gehalten. Da waren sie. Julie hatte sie zu den Lexika und Nachschlagewerken gestellt. Giftpflanzen war der Titel des einen Bandes, Zauber- und Hexentränke der des anderen. Julie nahm die Bücher mit ins Bett, rückte die Schreibtischlampe, die ihr je nach Bedarf nun auch als Nachttischleuchte diente, näher zu sich und blätterte die verblichenen Seiten um.

      Seidelbastbeeren und Herbstzeitlosen waren tödlich. Wo sollte sie die finden? Sophie konnte sie nicht fragen, die würde sofort Verdacht schöpfen. Plötzlich fiel Julie ein Gesprächsfetzen ein. Irgendwann hatte Sophie Barbiturate als Bestandteile der stärksten Beruhigungsmittel erwähnt.

       19

      In der Einhorn-Apotheke reihte sich Julie in die Warteschlange ein. Wieder trug sie schwarz. Andere Farben vermittelten Leichtigkeit, Energie und Leben, drei Zustände, die sie nicht mehr in sich spürte, an die sie im Moment auch nicht erinnert werden wollte. Nur die Farbe der Trauer zog sie an, die Farbe der Nacht, der Unendlichkeit,