Rudolf stöhnte innerlich. „Der kapiert überhaupt nichts.“
„Ich bin in Breisach in Frankreich geboren“, versuchte er es noch einmal. „Wir wurden besetzt. Die Deutschen sagen, das Elsass ist deutsch, deshalb wurden wir zur deutschen Armee eingezogen.“ Er nahm ein leeres Blatt und einen Bleistift vom Schreibtisch und malte eine lange Linie von oben nach unten, „das ist der Rhein.“ Dann einen Kreis am unteren Ende. „Das ist Basel in der Schweiz, linke Seite Elsass, rechte Seite Deutschland.“ Mittendrin zeichnete er noch einen großen und einen kleinen Kreis: „Das ist Breisach in Deutschland und das ist Breisach in Frankreich.“ Außerdem zeichnete er Straßburg, Colmar und die Vogesen ein und machte einen großen Bogen um das Ganze. „Das ist das Elsass, wir sprechen deutsch und französisch. Die Deutschen sagen, wir sind deutsch, die Franzosen, wir sind französisch.“ Er fasste mit der Hand ans Herz, „hier sind wir Franzosen.“
Der Kommandant rief nach seiner Sekretärin, die ihm ein Formular auf den Schreibtisch legte. „Ministerium suchen für de Gaulle Elsässer.“ Der Kommandant unterschrieb, knallte einen Stempel drauf und grinste Rudolf breit an. „Du frei.“
Nun ging alles sehr schnell. Unter den wachsamen Augen eines russischen Aufsehers räumte er seine Habseligkeiten zusammen. Auf dem Hof wartete ein Lkw mit laufendem Motor. Die Fahrt endete am Bahnhof einer Kleinstadt. Dort führte ihn ein Unteroffizier an das Ende des Bahnsteigs zu etwa zwanzig weiteren Gefangenen, die verschmutzt, krank und verlaust herumstanden oder dösend dahockten. Links und rechts hörte Rudolf den ihm so bekannten Dialekt, manche sprachen auch französisch. „Das sind alles Elsässer! Was passiert, wenn die merken, dass ich keiner von ihnen bin?“ Er setzte sich etwas abseits auf seinen Rucksack und drückte die Mütze ins Gesicht.
Gegen Abend erschien ein Offizier und ließ sie antreten, Rudolf hoffte inständig, dass ihn keiner ansprach. In gebrochenem Deutsch wurde ihnen erklärt, dass sie mit dem Zug zunächst nach Tambow in ein Sammellager kämen, bevor man sie weiter nach Frankreich schickte. Dann wurden Zigaretten ausgeteilt. Rudolf steckte seine ein. Er rauchte nicht, würde sie aber zum Tauschen einsetzen. Eine Stunde später kamen zwei Frauen mit einem Kessel wässriger Suppe und einer Scheibe Brot für jeden.
Plötzlich entstand auf dem Bahnsteig Unruhe. Befehle wurden laut. Eine Dampflok mit mehreren Waggons stampfte mit Getöse in den Bahnhof. In den vorderen Wagen stiegen Zivilisten aus und ein, ganz normale Leute. Die Kriegsgefangenen, es waren inzwischen über vierzig, wurden zum Viehwagen am Ende des Zuges geleitet. Sie fuhren die ganze Nacht und den nächsten Tag durch die immer gleiche eintönige Landschaft, manchmal standen sie stundenlang auf einem Nebengleis,
einige Male wurden sie an einen anderen Zug angehängt. Schnell hatten sich kleine Gruppen gebildet, die von zu Hause erzählten und mit selbst gebastelten Karten spielten.
Am zweiten Tag setzte sich ein Colmarer zu ihrer Gruppe. Als er Rudolf sprechen hörte, fragte er: „Deinen Dialekt kenn ich nicht, wo kommst du her?“
Rudolf sagte rasch: „Aus Breisach!“
„Aber nicht aus Neuf-Brisach.“
„Der ist aus Alt-Breisach“, meinte ein anderer.
Rudolf war blass geworden. Also wussten sie, dass er nicht aus dem Elsass kam.
„Dann ist er ja ein Schwob!“
Die ganze Runde lachte. Einer sagte: „Na und, der ist wie wir im Dreck gelegen. Früher war ich oft drüben in Alt-Breisach.“
„Was ist, spielen wir weiter?“, meinte ein anderer, der nur kurz von seinen Karten hochgeschaut hatte.
Rudolf konnte es nicht glauben. Alle hatten es gewusst und keiner hatte ihn verraten, es schien ihnen nicht einmal besonders wichtig zu sein.
In Tambow fiel Rudolf nicht auf, hier waren Belgier, Franzosen, Luxemburger und Deutsche bunt zusammengewürfelt. Ausländische Nazis, die freiwillig in die Deutsche Armee eingetreten waren, genauso wie zwangsrekrutierte Elsässer oder ehemalige französische Fremdarbeiter. Eines Tages wurden die rund 1.000 hier im Lager zusammengezogenen Elsässer zu einem langen Zug mit offenen Waggons gebracht. Ihnen wurde versichert, dass es jetzt endgültig nach Frankreich gehe. Auf der langen Fahrt frischte Robert seine Schulkenntnisse in Französisch auf. Sie überquerten die Wolga, in Polen die Oder. In Seelow, der ersten deutschen Stadt, ermunterte ihn Werner, mit dem er sich angefreundet hatte, abzuhauen und sich so durchzuschlagen. Auf dem Bahnsteig patrouillierten aber zu viele russische Soldaten. Ohne gültige Entlassungspapiere würde er es nie bis nach Hause schaffen, das wurde ihm schnell klar.
In der folgenden Nacht fuhren sie durch Berlin. Alle drängten sich an die offenen Türen. Links und rechts im Mondlicht sahen sie eine gespenstische menschenleere Ruinenlandschaft. Wie konnte man hier überleben?
Vorerst endgültiger Halt war in Kevelaer nahe der holländischen Grenze, letzte Chance für eine Flucht. Aber ohne Papiere traute er sich wieder nicht. Er blieb lieber bei der Gruppe, bei der er sich relativ sicher fühlte.
Nach drei Tagen ging es endlich weiter, über Holland und Belgien nach Valenciennes. Die erste französische Stadt, alle jubelten. Der Bahnsteig war schwarz von Menschen. Unbekannte Frauen fielen ihnen um den Hals. Helferinnen vom Roten Kreuz verteilten halbe Baguettes, Wurst und Wein. Die meisten der Ankömmlinge weinten. Endlich zu Hause!
Eine Stunde später ging es weiter. In der Nacht fuhren sie in den Gare de l’Est in Paris ein. Wieder Trauben von Menschen. Viele wollten wissen, woher sie kämen, fragten nach Angehörigen, Männern, Söhnen. Da kamen französische Soldaten in adretten sauberen Uniformen und verschlossenen Mienen und übernahmen sie. Vor dem Bahnhof ließ man sie antreten, dann wurden sie auf Busse verteilt. Sie fuhren durch das dunkle und menschenleere Paris, ab und zu kam ihnen ein Militärlastwagen entgegen. Wieder ein Lager, mitten im Grünen, eingezäunt und bewacht. Sie bekamen Suppe, mussten dann auf dem Boden schlafen, Ausgehverbot. Was kam da auf sie zu? Rudolf konnte den ungebrochenen Optimismus seiner Kameraden nicht teilen.
Am nächsten Morgen saß er vor einem müde aussehenden Zivilisten, daneben ein Offizier der Militärpolizei und eine Frau in Uniform. „Ihr Name“, wurde er sachlich und unpersönlich gefragt. Dem Beamten war anzusehen, dass er die Prozedur langsam satt hatte.
„Rudolf Holzwarth.“
„Dienstgrad?“
„Obergefreiter.“
„Geburtsdatum und Ort?“
„Zwanzigster Juli 1922 in Neu-Breisach.“
„Wann wurden Sie eingezogen?“
„Am ersten Februar 1943.“
„Wo sind Ihre Papiere?“
„Die haben mir die Russen abgenommen.“
„Waren Sie in der NSDAP?“
„Nein.“
„Waren Ihre Eltern in der NSDAP?“
„Mein Vater arbeitete bei der Bahn. Da musste er in die Partei eintreten.“
Die Frau lächelte bitter. „Ja, ja, die Elsässer, keiner war Nazi, alle im Widerstand.“
So ging es noch eine ganze Weile weiter. Dass er nicht gut französisch sprach, störte niemanden. Er war mittlerweile schweißgebadet. Plötzlich hielt er es nicht mehr aus. „Ich bin kein Elsässer“, platzte er heraus. „Ich bin aus Alt-Breisach, die Russen haben mich versehentlich freigelassen.“
Der Zivilist, vor dem Krieg Geschichtslehrer, hatte die ganze Zeit in seinen Akten geblättert. Er schaute plötzlich interessiert hoch. „Das war gar nicht so falsch. Die Russen kennen sich aus in der Geschichte. Breisach ist eine alte elsässische Stadt.“
„Ich meine Alt-Breisach.“
„Ich auch. Wissen Sie nicht, dass Ludwig XIV. dort von seinem berühmten Baumeister Vauban eine Festung bauen ließ?“
„Was machen wir jetzt mit ihm? Zeigen Sie mal Ihren Entlassschein!“,