Ein elsässischer Gast
(1945)
Erna Straub rückte die Stühle um die Tische zurecht, ging zum Schanktisch, nahm ein Glas nach dem anderen und wischte es mit dem Geschirrtuch blank. Da ging die Tür auf und ein französischer Soldat in Uniform kam herein.
„Hübscher Kerl“, schoss es ihr durch den Kopf. Dann aber erschrak sie: Seine Augen waren brennend, starr, irr.
Da stand er auch schon vor ihr und sprach sie auf deutsch an: „Geld her, schnell!“
Da erst nahm sie die Pistole in seiner Hand wahr. Sie lachte: „Was willst du? Geld? Das kannst du haben. Ich kann eh nichts damit anfangen.“
„Reden Sie nicht. Machen Sie die Kasse auf oder ich schieße.“
„Junge, Junge, du bist doch von drüben, aus dem Elsass, vielleicht kenne ich deine Mutter. Was würde die sagen, wenn sie wüsste, was du hier treibst!“
Der Soldat wurde blass, langsam ließ er die Pistole sinken.
Erna griff vorsichtig nach der Waffe und legte sie auf den Schanktisch. „Komm, setz dich und trink ein Glas Wein mit mir.“
Er wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte sich alles so genau überlegt und dann brachte ihn diese Alte mit seiner Mutter durcheinander. In ihrer Kittelschürze, die Haare zum Knoten gebunden und mit den strengen dunklen Augen sah sie ihr auch noch ähnlich. Wortlos nippte er an seinem Glas.
Erna ließ ihn einen Moment seinen Gedanken nachhängen. „Erzähle, warum hast du das gemacht, Junge?“
Er senkte verlegen den Kopf. „Das verstehen Sie nicht. Und sagen Sie nicht immer Junge zu mir, ich heiße François.“
„Gut François, was verstehe ich nicht? Ich bin auch nicht von gestern und habe schon einiges erlebt in diesem Krieg.“
„Ich hasse euch Deutsche!“
„Meinst du, mir gefällt der Krieg? Vorher hatten wir immer viele Kunden von der anderen Seite. Gemütliche und lustige Leute, und wenn drüben Kirchweih war, sind wir mit dem Boot zum Tanzen gefahren. Und meine erste große Liebe war so ein junger Mann wie du, ein Elsässer. Soll ich euch jetzt auch hassen? Deine Kameraden, die uns verhungern lassen?“ Es musste mal raus, all das, was sie die letzten Tage beschäftigt hatte und über das sie mit niemandem reden konnte. „Aber eines sage ich dir, wenn ich eine Tochter hätte und die Marokkaner hätten sie vergewaltigt, wie es hier im Dorf passiert ist, würdest du nicht hier sitzen.“ Ganz in Gedanken hatte sie nach dem Küchenmesser gegriffen, das zufällig auf dem Tisch lag.
Erschrocken wich er zurück.
Sie warf es wieder hin und strich mit der Hand ihre sowieso schon straffen Haare glatt. „Was hat der Krieg nur aus uns gemacht!“
Beide schauten in ihr Glas und hingen ihren Gedanken nach.
„Und wie bist du auf diese blöde Idee gekommen?“
Er zuckte mit den Schultern: „Als die Deutschen das Elsass besetzt haben, war das am Anfang gar nicht schlimm. Meine Eltern hatten keine schlechte Meinung von ihnen und irgendwann würden sie wieder verschwinden, meinten sie. So wie schon einmal. Dann zogen sie meinen Vater ein, er fiel im Kessel von Stalingrad. Bevor sie mich auch noch holten, flüchtete ich mit einem Freund in die Schweiz. Zwei Jahre lang habe ich das Bild meiner Freundin Jacqueline mit mir herumgetragen. Im Internierungslager bei Basel warben mich die Franzosen an. Zuerst wurde ich in Nordafrika in der französischen Armee ausgebildet, dann ging es quer durch Frankreich.
Ich schaute oft ihr Foto an. Wir hatten nichts miteinander, habe mich nicht getraut, weil ich dachte, sie ist ein anständiges Mädchen und wartet auf mich. Nach dem Krieg würden wir heiraten. Ja, und dann war ich bei der Kompanie, die in unser Dorf einmarschierte. Die Menschen standen am Straßenrand. Freunde, Schulkameraden und Nachbarn jubelten und weinten vor Freude. Ich suchte Jacqueline, aber fand sie nicht. Meine Großmutter war inzwischen gestorben und meine Mutter hatten sie nach meiner Flucht ins KZ gesteckt. Mein Cousin Richard war der letzte Verwandte im Dorf. Von ihm erfuhr ich schließlich, dass Jacqueline mit dem deutschen Lehrer ein Verhältnis hatte und ein Kind bekam. Eines Abends hat sie mich in meinem Quartier besucht. Ich habe sie fortgeschickt.“
„Und was hat das mit deinem Überfall hier zu tun?“
„Ich wollte mich rächen, für meine Mutter, für Jacqueline.“
„Und was wolltest du mit dem Geld?“
François wurde rot. „Ich wollte“, stotterte er, „ich wollte mir damit ein Mädchen kaufen.“
Sie legte ihre Hand auf seine. „Junge, Junge, du brauchst dich doch nicht zu schämen. Wenn es das ist, was du brauchst, bediene dich. Ich bekomme so gut wie nichts mehr für die alten Reichsmark, aber wenn es dafür reicht, bitte!“
François liefen die Tränen herunter. Erna stand auf und drückte ihn an sich. „Was für ein Elend, ich glaube, was dir fehlt, ist vor allem eine Mutter.“
„Ich will doch gar nicht ins Bordell, ich will Jacqueline“, schluchzte er.
„Viele Soldaten, die Monate und Jahre von zu Hause weg sind, machen das manchmal und trotzdem lieben sie ihre Frau. Auch Frauen sind allein und einsam. Da kann man kein Urteil fällen. Für deine Jacqueline war es bestimmt auch nicht leicht, als du von heute auf morgen verschwunden bist. Hör dir doch erst einmal an, was sie zu sagen hat. Der Krieg hat so viele unschuldige Menschen zurückgelassen.“
Als François gehen wollte, umarmte ihn Erna. „Lass von dir hören, ich würde mich freuen.“
Ein paar Jahre später kam ein Brief:
Liebe Frau Straub,
ich bin der junge Mann, der Sie im Frühjahr 1945 überfallen hat. Mit Jacqueline habe ich dann doch geredet, wie Sie mir geraten haben. Wir trafen uns noch ein paar Mal und haben versucht, neu anzufangen, aber wir passten einfach nicht mehr zusammen. Es war zu viel passiert.
Inzwischen bin ich mit einer deutschen Frau verheiratet, die ich als Besatzungssoldat in Speyer kennengelernt habe. Wir haben eine Tochter von zwei Jahren und einen fünfjährigen Sohn und sind sehr glücklich. Ich bin hier geblieben und arbeite jetzt in der BASF. Noch ein paar Jahre und ich bin selbst ein Deutscher!
Streitkultur
(2002)
Sie: Schau mal hinter der Zeitung vor, ich will etwas
mit dir besprechen.
Er: Ich kann lesen und zuhören gleichzeitig.
Sie: Dass ich nicht lache.
Alles muss ich dir dreimal erzählen. Jetzt hör mal zu!
Er: Bist du mit deinem Teil schon fertig?
Sie: Die Todesanzeigen habe ich gelesen.
Es ist niemand dabei, den wir kennen.
Er: Ist das alles, was dich interessiert?
Sie: Wenn ich nicht jeden Tag nachschaue, würdest du Weihnachtskarten an Leute verschicken, die gestorben sind.
Er: Jeden Morgen das Gleiche: „Es hat den alten Herrn Maier erwischt.“ Oder: „Das hätte ich nicht gedacht, dass das Mariechen so alt geworden ist.“ Man könnte meinen, es gäbe keinen größeren Spaß als zu sterben.
Sie: Es ist schon ein schönes Gefühl, wenn du nicht selbst dabei bist. Aber – könntest du mal im Horoskop
nachsehen, ob wir diese Woche im Lotto gewinnen?
Er: Davon steht nichts drin. Aber, dass ich Glück in
der Liebe habe.
Sie: Wenn du mich weiter so aufregst, mit mir nicht!
Das kann ich dir