»Bisher ist die doch immer nur nach Solingen abgehauen und dort vom Jugendamt aufgegriffen worden«, versuchte der Beamte abzuwiegeln, nachdem er seinen Computer mit Sarahs Namen gefüttert hatte. Er schien wenig Lust zu haben, das Formular umsonst auszufüllen.
»Drei Tage war sie noch nie weg.«
Kotthausen wollte sich nicht abwimmeln lassen.
»Wer sind Sie überhaupt?« Der Beamte schaute ihn fragend an.
Er wirkte gereizt.
»Ich bin ein Nachbar«, sagte Kotthausen, »ich habe Sarahs Mutter nur begleitet.«
Die Frau nickte abwesend.
»Nun gut, ich nehme erst einmal eine vorläufige Vermisstenanzeige auf. Morgen ist Feiertag, 01. Mai. Wenn Sarah dann immer noch nicht zu Hause ist, gehen Sie am Mittwoch direkt ins Präsidium zum zuständigen Kommissariat und nehmen ein Foto von dem Kind mit.«
Seufzend setzte er sich an den Computer und suchte in den Formularvordrucken das richtige heraus.
Kotthausen schaute sich derweil in dem kargen Wachraum um. An einem schwarzen Brett hing ein kleines rot umrandetes Poster.
Vermisst wird seit dem 12. Februar 2001 die 15-jährige Lisa Niewöhler. Auf ihrem Schulweg wurde sie zuletzt in Höhe der Haltestelle Rathaus Cronenberg gesehen. Sie war bekleidet mit …
»Die ging auch in Sarahs Schule.« Kotthausen zeigte in Richtung des Fotos, unter dem der Text stand.
Der Beamte schaute gar nicht hin.
»Die wird wirklich vermisst«, murmelte er, »seit drei Monaten unauffindbar.«
»Gibt es keine Hinweise, wo sie sein könnte?«, fragte Kotthausen.
»Keine Ahnung. Das können Sie die Kollegen von der Vermisstenstelle fragen.«
Kotthausen ging näher an das Foto heran. Das Bild erinnerte ihn an Sarah. Lange blonde Haare, Stupsnase und in ihren Augen spiegelte sich Trotz.
Gibt es keinen anderen Ausweg, als abzuhauen, wenn man zu Hause nicht mehr klarkommt?, fragte sich Kotthausen. Sind die Familien so kaputt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, anständig miteinander zu kommunizieren? Gibt es niemanden, der hilft?
Kotthausen half, wo er konnte. Selbst in den Klassen seiner Grundschule gab es Kinder, die auffällig waren. Er versuchte zu ergründen, woran es lag. Er suchte die Eltern zu Hause auf, zwang sie zum Gespräch. Gern gesehen war er selten. Das machte ihm nichts aus. Er fühlte sich verpflichtet, wollte glückliche Kinder um sich haben.
»Du wärst besser Sozialarbeiter geworden«, warf ihm seine Frau oft vor. Sie missbilligte seinen permanenten Einsatz, der einen Großteil seiner Freizeit vereinnahmte. Dass seine Ehe daran zugrunde gehen sollte, ahnte er nicht.
Kapitel 1
Viele Jahre später konnte Heinz-Günther Kotthausen trotz der tragischen Ereignisse von damals auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Wenn er durch seine alten Fotoalben blätterte, sah er eine glückliche Kindheit und Jugend in Cronenberg, dem abgelegenen Stadtteil Wuppertals, das an die Nachbarstädte Remscheid und Solingen grenzte. Dort oben auf dem Hügel, umgeben von Wäldern, lebte ein kriegerisches Bergvolk. So spotteten etliche Elberfelder, die sich und ihren Stadtteil als die Metropole Wuppertals betrachteten. Dass die Barmer im Osten des Tals für sich das Gleiche einforderten, scherte sie wenig. Die Cronenberger jedoch fühlten sich erhaben über alle. Dort wuchs Kotthausen auf, dort ging er in den Kindergarten, in die Schule, machte eine Lehre als Maschinenschlosser in einer der zahlreichen kleinen Werkzeugfabriken. Jetzt war er Pensionär, denn er hatte im Abendstudium das Abitur nachgeholt und danach auf Lehramt studiert.
Ein Mann von Welt sah anders aus. Mit seiner abgewetzten Cordhose, der zerknitterten Jacke und den stumpfen Lederschuhen gab er den Anschein einer schludrigen Person. Die bunten Flecken auf seinem Pullunder vervollständigten diesen Eindruck. Sie verrieten seine letzte Mahlzeit: irgendetwas mit Tomatensoße. Die zu langen grauen Haare hingen ihm in die Stirn, die Brille saß schief auf seiner großen Nase. In früheren Jahren war er Bartträger gewesen. Das machte ihn alt, entschied er irgendwann und rasierte ihn ab. Seine jetzige Erscheinung ähnelte dem Klischee eines zerstreuten Professors, würde so mancher sagen und läge damit ja nicht ganz falsch.
In Wahrheit war seine korrekte Berufsbezeichnung: Grundschullehrer. Als solcher blieb er in Cronenberg haften, lernte dort seine Frau kennen und verlor sie später in Elberfeld vor dem Amtsgericht im Rahmen eines Scheidungsprozesses. Er hatte immer geglaubt, dass sie eine glückliche Ehe führten. Seine Frau war offensichtlich anderer Ansicht. Nach fast 30 Jahren verließ sie ihn – und stieß ihn damit vor den Kopf.
Im weiteren Leben war es das Arbeiten, das ihm Halt und Zufriedenheit bot, wie zuvor auch schon. Das war es ja, was seine Frau ihm vorgeworfen hatte. Seine Arbeit.
Dabei endete seine Tätigkeit als Lehrer bereits am frühen Nachmittag. Er übte sie mit Leib und Seele aus. Doch das war ihm nicht genug. Mindestens an drei Nachmittagen der Woche kümmerte er sich auch noch um das Seelenheil der Nachbarn, die vom Leben überfordert zu sein schienen. Und um deren vernachlässigte Kinder, damit die wenigstens einigermaßen den schulischen Anforderungen genügten. Eigene Kinder hatte er nicht.
Seine Frau kam erst an zweiter oder dritter Stelle, denn er brauchte ja auch noch Zeit für sein Hobby: verschwundenen historischen Schätzen auf die Spur zu kommen – bisher ohne nennenswerten Erfolg.
Was an dieser Leidenschaft, diesem Eifer verkehrt sein sollte, verstand er nicht und seine Frau verstand ihn nicht.
Jetzt war sie weg, lange schon.
Ohne Wehmut richtete Kotthausen sich auf ein Leben ohne Frau ein, was ihm nur anfangs schwerfiel. Seine Wäsche hatte er nun allein zu waschen. Kochen musste er lernen. Er beschränkte sich auf Eintöpfe. Als ihm sein Speiseplan zu eintönig wurde, bediente er sich bei »Essen auf Rädern«.
Auch das gehörte nun der Vergangenheit an. Direkt nach seiner Pensionierung kehrte er Cronenberg den Rücken. Zurück blieben verblasste Erinnerungen und seine betagte Schwester, die allein das Haus ihrer verstorbenen Eltern bewohnte.
Mitte der 2000er-Jahre war Kotthausen dem Ruf einer Werbekampagne gefolgt, die sich findige Leipziger Stadtväter ausgedacht hatten. Sie warben um neue Einwohner und lockten mit billigen altengerechten Wohnungen. Nun also wohnte Kotthausen in Leipzig, hatte sich in ein generationsübergreifendes Wohnprojekt eingekauft und frönte dort seinem Hobby. Auf den Visitenkarten, die er sich drucken ließ, stand »Historiker«. Als solcher besuchte er bereits vor einigen Jahren seine alte Heimatstadt Wuppertal. Damals blieb sein Suchen ergebnislos. Nun aber glaubte er, neue Beweise zu haben.
Das legendäre, seit dem Kriegsende aus Königsberg verschwundene Bernsteinzimmer zog ihn zurück in das Tal der Wupper. Mehr denn je war er davon überzeugt, dass es sich irgendwo in der Stadt verbergen musste. Bisher war die Suche nicht von Erfolg gekrönt. Doch vielleicht hatte er hier, im letzten noch nicht durchsuchten Tunnel Glück. Die Hardt-Kaverne und das weitverzweigte Höhlenlabyrinth schienen ihm der richtige Ort zu sein.
*
Die schweißnass auf der Stirn klebenden Haare schob er zum wiederholten Mal beiseite. Ratlos schaute er auf den vor ihm liegenden Tunneleingang.
Sah nur wie eine leichte Metalltür aus. Doch wo auch immer er den Hebel ansetzte, es bewegte sich nichts. Handwerkliches Geschick war ihm trotz seiner früheren Ausbildung nicht gegeben. Wütend trat er gegen das störrische Eisending.
Vielleicht könnte er die Hebelwirkung erhöhen, wenn er sich auf das Stemmeisen stellte? Immerhin brachte er knapp 100 Kilo auf die Waage. Er bückte sich, um das Eisen an der unteren Türkante anzusetzen. Ein trockener Knall ließ ihn überrascht aufschauen. Bewegte sich die Tür schon?
Nee, keinen Millimeter rührte sie sich.
Ein