In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1995a) nennt Habermas noch einen weiteren GeltungsanspruchGeltungsanspruch, den der Angemessenheit von Wertstandards. Der prototypische Fall der Einlösung dieses GeltungsanspruchsGeltungsanspruch ist die ästhetische KritikKritikin der Theorie des kommunikativen Handelns (S. 41). Auch Werturteile können reflektiert und begründet werden, jedoch nicht mit dem Ziel eines KonsensKonsenses, der als Basis für weiteres kommunikatives HandelnKommunikatives Handeln dient. Diese Form der Geltungsansprüche ist, so Habermas, nicht diskursiv einlösbar, allerdings durch Argumentation bearbeitbar. Es handelt sich dann nicht um Argumentation innerhalb eines Diskurses, sondern im Rahmen von „KritikKritikin der Theorie des kommunikativen Handelns“.
Bis hierher könnte man fragen, warum die Argumentationstheorie Habermas’ der dialektischen Perspektive zugeordnet wird. In der Tat ist die Annahme, dass die StrittigkeitStrittigkeit oder die Markierung von DissensDissens eine Unterbrechung in der laufenden Interaktion bedeutet, weit verbreitet und so auch in rhetorisch einzuordnenden Ansätzen zu finden (vgl. z.B. das Sequenzmodell des Argumentierens bei Spranz-Fogasy, Kapitel 5.4.2). Zudem ordnet Habermas selbst seinen Ansatz in Bezug auf die Trias Prozess, Prozedur, Produkt als Prozessansatz ein. Allerdings fasst er Prozess als „eine unwahrscheinliche, weil idealen Bedingungen hinreichend angenäherte Form der Kommunikation“ (1995a, S. 47). Diese Beschreibung der Prozessperspektive wird von den meisten Autorinnen nicht geteilt. Dialektisch wird das Modell durch zwei Bestandteile, die noch nicht eingeführt wurden: zum einen die Ideale SprechsituationIdeale Sprechsituation und zum anderen die KonsensorientierungKonsensorientierung. Oben wurde gesagt, dass Argumentierende sich im Diskurs außerhalb des kommunikativen Handelns stellen. Dies drückt aus, dass nach Habermas innerhalb von Diskursen spezifische Situationsbedingungen gegeben sind, nämlich die der Idealen Sprechsituation. Die Bedingungen der Idealen Sprechsituation geben Verfahrensregeln vor, die eher deskriptiv als präskriptiv zu verstehen sind. Es handelt sich um Regeln, von denen alle Teilnehmerinnen in einem Diskurs annehmen, dass sie gelten, wohl wissend, dass sie nicht (vollständig) befolgt werden können. Durch diese kontrafaktische Annahme haben die Regeln aber dennoch eine normative Wirkung innerhalb des Diskurses.
Allgemein lassen sich die Bedingungen der Idealen Sprechsituation unter der Überschrift „Herrschaftsfreiheit“ fassen. Der Diskurs wird durch keinen anderen Faktor bestimmt als den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas, 1981, S. 194). In einem Aufsatz zur Diskursethik nennt Habermas drei Diskursregeln, die Alexy ausgehend von Habermas’ Theorie entwickelt hat. Diese scheint Habermas als exemplarisch zu sehen.
(3.1) „ Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen.
(3.2) Jeder darf jede Behauptung problematisieren.Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen.Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern.
(3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen“ (Habermas, 1983, S. 99).
Bei diesen Regeln handelt es sich in erster Linie um Beteiligungsregeln. Habermas beschreibt sie als Regeln auf der Prozessebene, da sie aber den Diskurs normieren, lassen sie sich eher dem dialektischen Ansatz zuordnen. Zugleich sind es keine anzustrebenden Bedingungen, die Habermas hier formuliert, sondern gegebene Normen, die jede Argumentation bestimmen, auch wenn die Praxis von ihnen abweichen kann. Es handelt sich, so Habermas, „bei den Diskursregeln nicht einfach um Konventionen (…), sondern um unausweichliche Präsuppositionen“ (1983, S. 100). Die Bedingungen der Idealen Sprechsituation müssen nach Habermas kontrafaktisch angenommen werden.
Die Funktion von Argumentation ist es im Modell von Habermas, die StrittigkeitStrittigkeit des GeltungsanspruchesGeltungsanspruch in der Art zu bearbeiten, dass wieder der Übergang in das kommunikative Handeln möglich ist. Als Ziel des Diskurses benennt Habermas den KonsensKonsens, d.h. Argumentation hat bei ihm immer eine KonsensorientierungKonsensorientierung. Dieser KonsensKonsens wird auch als erreichbar beschrieben, allerdings unter den spezifischen Bedingungen der Idealen Sprechsituation.
Die Theorie Habermas’ ist vielfach kritisiert worden, insbesondere in der Argumentationswissenschaft. Ein Kritikpunkt ist, dass sie Argumentation als immer auf KonsensKonsens ausgerichtet sieht. Einige Autoren (vgl. z.B. Völzing, 1979) haben darauf hingewiesen, dass Argumentation auch genutzt werden kann, um einen DissensDissens zu verschärfen, oder dass eine Argumentation beendet werden kann mit dem Wissen, dass man keine Einigkeit erreichen wird. Die KonsensorientierungKonsensorientierung wird also als idealisierend gesehen und damit als ungeeignet für die Beschreibung und Analyse authentischer Argumentation. Allerdings geht es Habermas mit seiner Theorie nicht darum, jede Form von Argumentation zu erläutern. So ist das Ziel zum Beispiel nicht, Argumentation in Alltagsgesprächen analysierbar zu machen (auch wenn der Ansatz von Habermas hier durchaus interessante Einblicke geben mag). Es geht vielmehr darum, dass der Austausch von Gründen die privilegierte Form ist, um im öffentlichen Diskurs KonsensKonsens zu erreichen. Und die Teilnehmerinnen im öffentlichen Diskurs gehen nach Habermas in den Diskurs mit dem Ziel KonsensKonsens – Verständigung – zu erreichen. Allerdings ist diese Annahme kontrafaktisch. Wäre das Ziel nicht die Herstellung von Verständigung, würden die Teilnehmerinnen gar nicht in den Diskurs eintreten. Sie tun es mit dem Wissen, dass ein KonsensKonsens unwahrscheinlich ist. Das Gleiche gilt für die Ideale SprechsituationIdeale Sprechsituation. Auch hier ist die Kritik geäußert worden, dass diese Situation etwas als Grundlage einfordert, das nicht möglich ist: herrschaftsfreier Diskurs. Aber auch das ist als kontrafaktische Annahme zu lesen. Zwar sind die Bedingungen der Idealen Sprechsituation faktisch (meist) nicht gegeben, wir können aber innerhalb von Argumentation gar nicht anders, als sie als Bedingungen anzunehmen. Argumentation ist bei Habermas also nicht einfach eine kommunikative Form neben anderen, sondern sie ist in einer demokratischen, offenen Gesellschaft das privilegierte Mittel, um zu Entscheidungen zu führen und diese zu legitimieren. Dass diese Theorie innerhalb der Argumentationswissenschaft nicht noch eine höhere Wirkmächtigkeit entfaltet hat, mag daran liegen, dass die Argumentation in den Habermas’schen Arbeiten eher angerissen als argumentationstheoretisch weiterentwickelt wurde. Das ist wiederum nachzuvollziehen, ist die Argumentationstheorie für Habermas doch ein Instrument zur Entwicklung seiner Gesellschaftstheorie. Sein Ansinnen ist nicht das eines Argumentationswissenschaftlers, sondern eines Sozialwissenschaftlers.
3.4 Die normative Pragmatik und die Theorie von Präsumtionen und Beweislast
Eine weitere Strömung innerhalb der dialektischen Perspektive ist die normative PragmatikNormative Pragmatik. Unter dieser Überschrift versammeln sich verschiedene Ansätze, die in der Regel von den Grice’schen KonversationsmaximenKonversationsmaximen und dem KooperationsprinzipKooperationsprinzip ausgehen.
Ein Problem, das innerhalb der normativen Pragmatik besonders intensiv diskutiert wird, ist das Verhältnis von BeweislastBeweislast und PräsumtionPräsumtion (oder auch gleichbedeutend: PräsumptionPräsumptionPräsumtion) innerhalb von Argumentation. Die grundlegende Frage ist hier, ob und wie bestimmt wird, welche Argumentationspartnerin innerhalb eines argumentativen Austausches in Beweispflicht steht, von wem also überhaupt Gründe eingefordert werden können und wer aus einer bestimmten Position heraus das Geben von Gründen auch verweigern kann. Dies ist eine grundlegend dialektische Frage: Welche Rechte und Pflichten haben die Teilnehmerinnen einer Argumentation und wie müssen sie diesen gerecht werden. Der Begriff der PräsumtionPräsumtion wird besonders in der Rechtswissenschaft genutzt und meint eine Voraussetzung oder Setzung. Diese Setzung dient dazu, die Entscheidungsfindung zu strukturieren und folglich zu erleichtern. Eine PräsumtionPräsumtion ist damit (aus Sicht vieler, aber nicht aller Autorinnen) ein Schlussverfahren: Solange die PräsumtionPräsumtion nicht widerlegt ist, kann von ihr auf eine Konklusion geschlossen werden. Das klassische Beispiel ist hier die Setzung der Unschuld des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils. Solange die Schuld nicht bewiesen werden kann, kann daraus geschlossen werden, dass die Angeklagte unschuldig ist. Auf Grund dieser Setzung liegt die BeweislastBeweislast im Strafverfahren auf Seiten der Anklage, nicht auf Seiten der Verteidigung.
Die Zuweisung von BeweislastenBeweislast sorgt unter anderem dafür, dass der Schlusspunkt einer Argumentation leichter