Abb. 1 Dialogtypen nach Walton (2010, S. 13)
Die Typologie trägt der Tatsache Rechnung, dass nicht alle Diskursformen, in denen argumentiert wird, den gleichen Bedingungen unterliegen. Interessant sind an diesem Modell möglicherweise weniger die Typen an sich, sondern die Übergangsbereiche zwischen den einzelnen Typen. Genau an den Übergangsstellen können Probleme in der Argumentation auftreten. Dies lässt sich an einem Ausschnitt des Beispiels zeigen.
JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen!
JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu?
JUROR 10: Ach Sie – Sie sind ein ganz geriebener Gauner …
JUROR 1: Aber, aber, meine Herren! Immer mit der Ruhe!
JUROR 7: Lassen Sie ihn doch reden! Tief durchatmen, entspannen!
JUROR 10: Er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, Sie werden schon sehen –
JUROR 1: Gut, gut, wir sind doch nicht da, um uns zu streiten. Wer kommt dran?
Der Dialog entspricht wohl am ehesten dem Typus der Beratung (deliberation), da es darum geht, eine Entscheidung zu treffen. Man könnte auch dafür argumentieren, dass es sich eher um eine Untersuchung (inquiry) handelt. Allerdings liegen in einer Beratung von Geschworenen die Beweise bereits vor und müssen von ihnen „nur noch“ gewichtet werden. Interessant ist jetzt die Äußerung von Juror 10, der Juror 8 vorwirft ein „ganz geriebener Gauner“ zu sein. Hier könnte die Beratung (deliberation) in einen eristischen Dialog umschlagen. Das scheint auch Juror 1 zu befürchten, wenn er die Juroren zur Ordnung ruft und etwas später sagt: „Wir sind doch nicht da, um uns zu streiten.“ Die Äußerung des Jurors 10 könnte also als Versuch gesehen werden, den Dialogtypus zu ändern bzw. Anteile eines anderen Typus in den der Beratung zu implementieren. Die Nutzung von Äußerungen im „falschen“ Dialogtyp würde nach Walton einen FehlschlussFehlschluss darstellen. Damit ist FehlschlüssigkeitFehlschlüssigkeit nicht durch die spezielle Form eines Argumentes bestimmt, sondern dadurch, dass ein Argument im „falschen“ Dialogtyp genutzt wird.
Was innerhalb der Informellen Logik unter Argumentation verstanden wird, ist am Beispiel der Dialogtheorie Waltons deutlich geworden: Argumentation ist dialogisch, findet zwischen verschiedenen Beteiligten statt, ist aber normativ eingebettet in bestimmte Verfahrensregeln. Die Frage, wie sich Geltung konstituiert, ist für die Informelle LogikInformelle Logik nicht insgesamt zu beantworten, sondern wird stark diskutiert. Welche Rolle spielen die Kriterien RelevanzRelevanz, HinlänglichkeitHinlänglichkeit und AkzeptabilitätAkzeptabilität, die oben bereits genannt wurden? Welche Rolle spielen WahrheitWahrheit und EffektivitätEffektivität in diesem Zusammenhang? Diese Diskussion soll am Beispiel der Debatte um Johnsons Veröffentlichung „Manifest Rationality“ (2000) dargestellt werden. Johnson, eine der Gründungsfiguren der Informellen Logik, entwickelt in seinem Buch, auf der Grundlage der Geschichte der Informellen Logik, eine Theorie der Argumentation, die zentral auf dem Begriff der dialectical tier fußt. Dieser lässt sich am besten übersetzen als ‚dialektische Ebene‘ innerhalb der Argumentation. Diese dialektische Ebene bezieht sich darauf, dass Argumentationspartnerinnen innerhalb ihrer Argumentation die möglichen Einwände und Gegenargumente einbeziehen müssen. Dieses Einbeziehen möglicher Gegenargumente bestimmt die Qualität der eigenen Argumente. Johnson (2000) definiert Argument folgendermaßen:
An argument is a type of discourse or text – the distillate of the practice of argumentation – in which the arguer seeks to persuade the Other(s) of the truth of the thesis by producing the reasons that support it. In addition to this illative core, an argument possesses a dialectical tier in which the arguer discharges his dialectical obligations (S. 168).
Ein Argument ist hier also das Produkt – distillate – von Argumentation. Es bestimmt sich nicht nur durch die Schlussbeziehung (illative core), sondern auch durch dialektische Verpflichtungen. Diese sind, wie oben beschrieben, gefasst als die Aufnahme von Gegenargumenten in die eigene Argumentation, eine Aufnahme, die, so Johnson (2000, S. 166), die erwartbaren Gegenargumente (standard objections) berücksichtigen muss. Wichtig ist hier, dass sich ein Argument nicht durch die dialektische Ebene von anderen Argumenten abgrenzt, sondern durch diese Ebene erst zu einem guten Argument wird. Weiterhin wird WahrheitWahrheit zu einem wichtigen Kriterium für Argumentation. Die Teilnehmerinnen wollen einander nicht von der Plausibilität oder Akzeptabilität ihrer Thesen überzeugenÜberzeugen, sondern von deren WahrheitWahrheit.
Tindale (2002) kritisiert an Johnsons Ansatz, dass hier die Kriterien für gute Argumente innerhalb der Informellen Logik – RelevanzRelevanz, HinlänglichkeitHinlänglichkeit und AkzeptabilitätAkzeptabilität – um WahrheitWahrheit erweitert werden (vgl. S. 303). Man könnte sagen, dass Johnson damit das Konzept argumentativer Geltung stärker in Richtung der Formalen Logik bewegt und damit weg von eher rhetorischen Konzepten. Zudem ist bemerkenswert, dass bei ihm nur schriftlicher Diskurs in den Bereich der Argumentation einbezogen wird, was große Bereiche – Alltagsgespräche und auch politische Debatten – außen vor lässt. Sicher lassen sich mündliche und schriftliche Argumentation voneinander unterscheiden, mit der Definition Johnsons wird der mündliche Bereich des BegründungshandelnsBegründungshandeln in Bezug auf einen strittigen Punkt aber als nicht-argumentativ etikettiert (vgl. zu einer weiterführenden Kritik auch Tindale, 2002). Diese Diskussion mag andeuten, dass es nicht möglich ist, zu sagen, wie Geltung innerhalb der Informellen Logik insgesamt bestimmt wird, sondern „nur“, welche Diskussionslinien sich zu diesem Thema ausmachen lassen.
Exkurs: Kritisches Denken
Zeitlich parallel und auch in starker Verbindung mit der Informellen Logik entwickelte sich in den USA und Kanada eine pädagogische Strömung, die das critical thinking ins Zentrum des Curriculums stellte. Kritisches DenkenKritisches Denken ist dabei nicht an eine Disziplin gebunden – auch wenn die meisten Autorinnen in diesem Feld aus der Philosophie kommen –, sondern bestimmt sich durch die Herangehensweise an Fragestellungen in jeder beliebigen Disziplin (vgl. van Eemeren, Grootendorst & Snoeck Henkemans, 1996, S. 165). Ennis (2011) definiert Kritisches DenkenKritisches Denken dann auch relativ weit als „reasonable and reflective thinking focused on deciding what to believe or do“ (ohne Seitenangabe). Kritisches DenkenKritisches Denken ist nicht die Anwendung Informeller Logik oder eines anderen argumentationswissenschaftlichen Ansatzes; Argumentation und Argumentationsanalyse sind aber wichtige Bestandteile des Kritischen Denkens. Da das Kritische Denken aber sehr eng mit der Entwicklung der Informellen Logik verbunden ist, soll es hier kurz näher betrachtet werden.
Ennis (2011) nennt 12 Fähigkeiten, über die „Kritische Denkerinnen“ verfügen sollten:
Focus on a question
Analyze arguments
Ask and answer clarification and/or challenge questions
Judge