Die junge Frau schrie bei der Aggression in seinem Ton auf und nur der beruhigende Griff des Feldwebels hielt sie davon ab, wegzulaufen. Dafür hatte Vars keine Zeit. Er musste wissen, was hier passiert war, und wissen, mit wie viel Ärger er zu rechnen hatte.
„Was ist hier passiert?“, verlangte er erneut. „Wo ist Prinzessin Lenore?“
„Weg“, sagte die Dienerin. „Die Stillen Männer … sie haben sie mitgenommen …“
„Stille Männer?“, sagte Vars und wollte es nicht glauben. Er hatte die Geschichten gehört. König Ravins ausgebildete Mörder, trainiert, die Brücken zu überqueren, um seine Befehle zu erfüllen.
„Sie … sie haben die meisten von uns getötet“, sagte die Frau. „Sie haben das Gasthaus eingenommen und nur ein paar von uns behalten für … für …“
Ein anderer Mann könte in diesem Moment etwas Beruhigendes gesagt haben. Vars starrte sie jedoch nur an.
„Wo ist meine Schwester?“, wiederholte er.
„Sie haben sie mitgenommen“, sagte die Dienerin. „Sie haben gewartet, bis sie mit ihren Männern ins Gasthaus gekommen ist. Sie haben die Männer getötet, und… sie haben sie gefangen genommen; sie und ihre Dienstmädchen. Sie haben sie hier behalten, sie verletzt und jetzt reiten sie in den Süden.“
„Und sie haben dich am Leben gelassen, um uns das zu erzählen?“, fragte Vars und glaubte es nicht ganz. Wenn man böse Dinge tat, war es besser, sie im Geheimen zu tun, abseits von neugierigen Blicken. Er wusste das sehr gut.
„Sie wollten, dass die Leute es erfahren“, sagte die junge Frau. „Sie haben einige der Dienstmädchen getötet, aber andere … sie haben sie mit Nachrichten losgeschickt. Sie haben mich hier gelassen. Sie wollen, dass die Leute wissen, was sie getan haben, dass sie auch hier die Prinzessin angreifen können. Dass sie sie entführt haben.“
Vars stieß einen Schrei aus, der pure Frustration und Wut enthielt. Die Leute um ihn herum mussten es für Zorn gehalten haben, dass seine Schwester gefangen genommen wurde, dass sie in Gefahr war. Es war jedoch mehr als das, so viel mehr. Es war die Tatsache, dass andere wussten, was hier passiert war, dank derer, die die Stillen Männe hatten entkommen lassen. Es war die Frustration, dass andere unweigerlich von seinem Versagen erfahren würden.
Es war die Erkenntnis dessen, was er als Nächstes tun musste.
„Wie viele von ihnen gibt es?“, verlangte er.
„Ein … vielleicht ein Dutzend“, sagte die Frau.
Ein Dutzend hatte das alles getan? Zumindest hatte dies einen Vorteil: Sie waren zahlreicher als die Stillen Männer. Vars gefiel es, wenn er seinen Gegnern zahlenmäßig überlegen war.
„Versammeln Sie die Männer“, schnappte Vars.
„Was ist mit ihr?“, fragte der Feldwebel und deutete mit einem Kopfnicken auf die Frau, die zurückgelassen worden war.
„Meine Schwester ist diejenige, die zählt!“
Sie war diejenige, deren Sicherheit für ihren Vater zählen würde. Käme er mit ihr zurück, könnte Vars sich irgendeine Geschichte ausdenken, warum er zu spät gekommen war, und dann immer noch als Held gefeiert werden. Käme er ohne Lenore zurück …
Dazu würde es nicht kommen. Vars würde es nicht zulassen.
Er ging zu seinem Pferd und sprang wie ein Held aus einem Lied in den Sattel. Ihm entging die Ironie darin nicht, als sich seine Männer versammelten und sich genau so formierten, als ob sie von einem echten Anführer geleitet würden.
Vars zog sein Schwert, was schon mehr war, als er normalerweise in einem Kampf tat. Er blickte die Männer an.
„Seht nach, ob noch Pferde im Stall sind. Der Rest von Euch macht sich bereit zu marschieren, im Laufschritt.“ Es gab Gemurmel aus den Reihen, aber Vars brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. „Meine Schwester, Eure Prinzessin, ist in Gefahr! Die Männer von König Ravin bringen sie zurück ins südliche Königreich, und das bedeutet, dass sie die Brücken überqueren. Wenn wir sie zuerst erreichen, können wir sie immer noch aufhalten und sie retten! Jeder Mann hier kann ein Held sein!“
Sie alle könnten es sein, aber er würde der größte Held von allen sein. Wenn er seine Schwester retten würde, würden die Männer Geschichten darüber erzählen, wie tapfer Prinz Vars gegen das Beste gekämpft hatte, was König Ravin zu bieten hatte. Scheiterte er jedoch … würde sein Vater wahrscheinlich seinen Kopf fordern.
Ein Dutzend Männer töten, um das zu verhindern? Vars würde das und mehr tun.
„Vorwärts!“, schrie er und trieb sein Pferd an. „Wir müssen rechtzeitig zur Brücke kommen!“
KAPITEL SIEBEN
Die erste Überraschung für Nerra war, dass sie überhaupt aufgewacht war. Ihre Augenlider flatterten und öffneten sich und sie konnte atmen, ihr Körper drohte nicht, sie zu verzehren. Sie setzte sich auf und die zweite Überraschung war das Bett, auf dem sie saß. Es war aus Stein, darauf lagen Decken, und es stand in einem scheinbar langen Schlafsaal mit ähnlichen Betten.
Auf jedem dieser Betten lag eine Gestalt, die meisten stöhnten, viele von ihnen waren so still, dass es so schien, als wären sie nur Atemzüge vom Tod entfernt. Nerra konnte Schweiß riechen und spürte eine Hitze, die bis auf die Knochen zu gehen schien. Die Gestalten trugen viele verschiedenartige Kleider, als wären sie aus allen Ecken der Welt hierher gebracht worden. Hier und da jedoch konnte Nerra einen Fleck nackter Haut sehen, der von schwarzen, schuppenartigen Linien überzogen war …
Sie waren wie sie.
Nerra blickte sich verwirrt um und versuchte, dies zu verstehen. Als sie ohnmächtig geworden war, gab es nur den Wald und den Drachen …
„Ihr seid wach.“
Der Mann, der in der Nähe der Tür stand, war die dritte Überraschung. Er hatte einen langen, lockigen Bart, in den er Muscheln eingewebt zu haben schien, die jeweils mit einem anderen Zeichen bemalt waren. Sein graues Haar war ebenfalls lang und fiel ihm auf die Schultern. Er trug eine Tunika und Hosen, die hier und da durch Überbeanspruchung ausgefranst waren. Er war groß und breitschultrig, mit Gesichtszügen, die verwittert und von Sorgen gezeichnet wirkten.
„Wer … wer seid Ihr?“, fragte Nerra und stand auf. „Wo bin ich?“
„Ihr seid dort, wo Ihr sein müsst, in der letzten Zuflucht für diejenigen mit der Drachenkrankheit“, sagte der Mann. Nerra runzelte die Stirn; im Nordreich nannten sie es die Schuppenkrankheit. Bedeutete das, dass sie nicht mehr im Nordreich war?
„Ich … ich fühlte …“, begann Nerra. „Ich war am Sterben.“
„Das wart Ihr“, stimmte der Mann mit einer Stimme zu, die für das, was er sagte, zu ruhig erschien. „Aber wir haben Möglichkeiten, die Krankheit eine Zeit lang zu stabilisieren.“
„Aber das ist unglaublich“, sagte Nerra. „Wenn die Leute wüssten … mein Vater ist …“
„Ich weiß, wer Ihr seid, Prinzessin Nerra“, sagte der Mann. „Ich weiß, dass Ihr für das, was Ihr seid, verstoßen wurdet, aber Ihr seid hier in Sicherheit. Dies ist ein Ort, an dem alle Kranken die Tage ihres Menschseins ausleben können, die sie noch haben. Wo wir tun, was wir können, um diese Zeit ein wenig zu verlängern.“
Nerra runzelte die Stirn. „Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, wer Ihr seid.“
„Ich bin Kleos“, sagte der Mann. „Ich bin der Hüter dieses Ortes. Ich habe Eure Ankunft miterlebt. Es kommt selten vor, dass jemand direkt von einem Drachen gebracht wird.“
Selten, aber anscheinend nicht so selten, dass es bei dem Mann dort einen Schock ausgelöst hätte.
„Ihr redet, als hättet Ihr schon Drachen gesehen“, sagte Nerra. „Wo bin ich?“
„Kommt“, sagte er. „Es ist besser, wenn Ihr es selbst seht.“
Er