»Miss Anderson, können Sie heute Abend eine oder zwei Stunden länger bleiben?«, bittet er mich.
Sein Ton ist dieses Mal nicht so schnippisch wie sonst, dennoch muss ich ablehnen. Jessy rollt provozierend die Augen hinter seinem Rücken und hält sich den Finger an die Schläfe, als würde sie sich einen Kopfschuss geben.
»Tut mir leid, heute geht es nicht. Ich habe eine Verabredung.«
Er knurrt nur unwirsch.
»Aber morgen hätte ich Zeit«, biete ich ihm an. Ich höre jetzt schon Jessys Vorhaltungen.
»Also gut, dann morgen.«
Er wendet sich um und will das Büro wieder verlassen, als er sich noch einmal umdreht.
»Haben Sie heute nicht den Termin für das Watson-Anwesen?«, will er wissen.
»Ja, ich muss auch gleich los.«
»Dann wünsche ich Ihnen Glück.« Mit diesen Worten verlässt er das Büro, dieses Mal nicht so dynamisch wie sonst.
»Wieso kriechst du diesem Idioten so in den Arsch?«, poltert Jessy schon los, als wir allein im Büro sind. » ... aber morgen könnte ich«, äfft sie mich nach. »Er ist ein Scheißkerl und hat dich behandelt wie eine, die nur darauf aus ist, den Chef zu ficken.«
»Okay, ist schon gut. Ich habe verstanden.«
Wieder pingt mein Handy. Die Nachricht ist von Jay.
Ist auch Essengehen zu viel?
J.
Verdammt! Er gibt nicht auf. Aber das gefällt mir. Ich überlege noch kurz, dann schreibe ich ihm zurück.
Essen hört sich gut an. Sind wir dann einfach nur verabredet?
S.
Seine Antwort darauf kommt prompt zurück.
Verabredet, wie zu einem ganz normalen Rendezvous.
J.
»Dein Bad Boy?«, fragt Jessy interessiert, während sie den letzten Schluck aus dem Kaffeebecher trinkt. Ich nicke.
»Ich sag doch: Niemals den ersten Schritt machen«, beschwört sie mich.
»Jetzt habe ich wirklich ein Date heute Abend.«
Jessy zwinkert mir nur verschwörerisch zu.
Bevor ich zu meinem Termin fahre, notiere ich mir noch die Telefonnummer einer Vermieterin, die eine kleine Wohnung anbietet, die genau meinen Vorstellungen entspricht, und vereinbare einen Termin.
Pünktlich um halb zwölf schnappe ich mir meine Handtasche, die Unterlagen und fahre meinen PC herunter.
»Wünsch mir Glück«, sage ich zu Jessy und stehe hinter meinem Schreibtisch auf.
Sie dreht sich zu mir um. »Den Auftrag hast du in der Tasche. Ich habe ein Gespür dafür. Vertrau mir.«
»Wir werden sehen. Also, bis später.«
Gutgelaunt laufe ich die Treppe hinunter ins Foyer und wäre beinahe mit dem Pförtner zusammengestoßen. Er hält mir die Eingangstür auf und ich schlüpfe hinaus. Die Sonne scheint mir grell ins Gesicht, sodass ich meine Sonnenbrille aus der Tasche hole. Vor meinen kleinen Nissan hat sich ein großer SUV gequetscht.
»Idiot!«, murmle ich genervt vor mich hin, während ich einige Male vor und zurückfahre, um aus der engen Parklücke herauszukommen. Aber davon lasse ich mir die gute Laune nicht verderben. Ich schlängle mich in den Mittagsverkehr und gehe in Gedanken noch einmal alle Fakten durch, während ich mir aus meiner Handtasche ein paar von den Gummibärchen angele, für die ich sterben könnte.
Vor dem Watson-Anwesen parke ich hinter einem schnittigen Sportwagen, an dem lässig ein Mann mit grau meliertem Haar lehnt und auf sein Handy starrt. In seinem Anzug erinnert er mich im ersten Moment an Richard Gere. Ich schnappe mir meine Tasche und die Unterlagen und steige aus. Sofort ist die Aufmerksamkeit des attraktiven Mannes auf mich gerichtet.
»Miss Anderson?«, werde ich von ihm begrüßt. Er stößt sich von seinem Wagen ab und kommt auf mich zu.
Ich muss zugeben, er wirkt unwahrscheinlich weltmännisch, hat eine gebräunte Haut, die perfekt zu seinen grauen Haaren passt. Ich schätze ihn auf höchstens Ende 40.
»Mister West? Tut mir leid, wenn Sie warten mussten«, entschuldige ich mich. Dabei reiche ich meinem Klienten die Hand.
»Ich bin zu früh dran. Also bitte, keine Entschuldigung.« Er lächelt mich an und zeigt mir eine Reihe gebleichter Zähne, die so unnatürlich wirken, dass ich von ihrem Anblick irritiert bin.
»Wollen wir reingehen?«, biete ich an. Er macht eine Geste, mir den Vortritt zu lassen – der perfekte Gentleman –, und wir betreten das Grundstück. Auf dem Weg zum Haus erzähle ich ihm einige Dinge, die ich über das Anwesen recherchieren konnte.
»Sie sind sehr gut vorbereitet«, schmeichelt er mir.
»Das gehört zum Beruf«, sage ich und stecke den Schlüssel ins Schloss.
Beeindruckt schaut er sich im Erdgeschoss um und geht durch alle Räume, während ich mit den Unterlagen in der Hand seine Fragen beantworte.
»Wie viele Badezimmer hat das Haus?«, will er wissen, während wir die Treppe nach oben steigen.
»Drei Badezimmer oben und eine Toilette und ein Badezimmer im Erdgeschoss. Das Untergeschoss kann auch als separate Einliegerwohnung genutzt werden. Es hat einen kleinen Küchenbereich und ebenfalls ein Badezimmer«, antworte ich.
Er nickt, während wir uns die Räume im ersten Stock anschauen.
»Das Haus scheint perfekt zu sein«, stimmt er nach einiger Zeit zu.
Meine innere Stimme schreit laut: »Ja«, während ich mir nicht anmerken lasse, wie wichtig dieser Abschluss für mich ist. Stattdessen versuche ich, ein wenig Smalltalk mit ihm zu betreiben.
»Werden Sie und Ihre Familie hier einziehen?«
»Nein, ich werde das Gebäude gewerblich nutzen«, teilt er mir mit, während seine Aufmerksamkeit nach draußen gerichtet ist und er zufrieden nickt.
»In welcher Branche sind Sie tätig, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin Unternehmer«, antwortet er einsilbig.
»Was für ein Gewerbe wird hier untergebracht?«
Jetzt dreht er sich zu mir um und beobachtet mich kurz, bevor er antwortet.
»Das möchten Sie nicht wissen.«
Ich bin im ersten Moment ernüchtert und die wildesten Gedanken jagen durch meinen Kopf, sodass ich nur verhalten lächeln kann.
»Haben Sie die Verträge dabei?«, wechselt er das Thema.
»Sie haben sich tatsächlich schon entschieden?«
»Ja, allerdings. Die Zeit drängt.«
Mein Gott, hat der es aber eilig. Ich möchte zu gerne wissen, wozu er dieses Gebäude nutzen wird. Außerdem kann ich meine Neugierde über ihn selbst kaum zurückhalten. Auf mich macht er den Eindruck eines weltmännischen Geschäftsmannes mit viel Erfahrung. Daher bin ich irritiert, dass er mich mit dem Kaufvertrag derartig drängt.
»Eigentlich ist es üblich, die Verträge im Büro zu unterzeichnen. Aber selbstverständlich kann ich Ihnen die Unterlagen mitgeben und wir vereinbaren einen neuen Termin. Ich kann auch gerne zu Ihnen ins Büro kommen«, biete ich ihm an, um mehr über ihn zu erfahren.
»Das wird nicht nötig sein.«
Perfekt abgewehrt! Er gibt nichts über sich preis und doch verhält er sich absolut zuvorkommend und