»Als Kind hat Tom es geliebt, Löcher zu graben.«
»Das tun alle Jungen.«
»Er war fasziniert, wie schnell sich seine Fußspuren im Sand mit Wasser füllten, und hat mit dem Schäufelchen unermüdlich ein Loch nach dem anderen gegraben, nur um zuzusehen, wie sie volllaufen.«
»Amy hat nie Sandburgen gebaut, immer nur Türme, Türme, Türme. Je höher, desto besser. Wer weiß, vielleicht hab ich das hier«, er zeigte mit dem Zeigefinger um sich, »auch wegen ihr gebaut. Meinen Turm.«
»Tom hat mich gefragt, ob Dinge genau wie Menschen Wünsche haben.«
»Möchte Schnee schwitzen?«, fragte er lachend. »So was?«
»Genau. Wäre Salz gern süß?«
»Will eine Kugel aus der Pistole fliegen? Wie alt war er da?«
»Sieben. Will der Spiegel, dass man sich in ihm betrachtet!«
»Großartig! Soll ich Musik anmachen?«
Sie nickte und sah zu, wie er die Beine aus dem Bett schwang, auf allen vieren zu den LPs hinüberkroch, als wolle er sie auf den Arm nehmen, den Plattenstapel durchblätterte, eine herauszog und sie auflegte. Neben dem Namen Daniel Lanois war auf der Hülle das Schwarz-Weiß-Foto eines gut aussehenden, geheimnisvoll lächelnden Mannes abgebildet, der sie an einen Indianer erinnerte.
»Weißt du, was meine Frau nach ihrer letzten Affäre zu mir sagte? ›Ich habe es für uns getan!‹«
»Ich habe es für uns getan? Ernsthaft?«
Daniel Lanois Stimme löste Bilder in ihr aus, die sie ablenkten, Bilder, die sie irritierten; sie sah einen breiten dunklen Strom, der träge an ihr vorbeifloss, sah ein Floß, auf dem sie saß, dabei stand sie doch am Ufer.
»Alles in Ordnung?«, fragte Jake.
»Die Musik gefällt mir. Ich habe es für uns getan? Hat sie das wirklich gesagt?«
»Ich hab die idiotische Ausrede in jedem Streit gebraucht. Wenn ich besoffen war: Ich habe es für uns getan! Wenn ich die Nerven verlor: Ich habe es für uns getan! Als ich unser Auto zu Schrott fuhr: Ich habe es für uns getan!«
»In den zwei Wochen vor seinem Unfall hat Michael die Zahnpastatube nicht mehr zugemacht, in Zimmern das Licht brennen lassen, dauernd seine Schlüssel verlegt und gelächelt, immer nur gelächelt. Als wüsste er was, was ich nicht weiß.«
»Entschuldige bitte, wenn ich das frage, Co, aber war es ganz bestimmt ein Unfall?«
»Weißt du, wie oft ich mich das gefragt habe?«
»Und? War es ein Unfall?«
»Ich denke schon, ja. Die erste Zeit danach habe ich mich gefühlt wie der Schatten, den mein toter Michael wirft.«
Offenbar war Ebbe, jedenfalls bemerkte sie Fels- und Sandbänke, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, an denen sich die hereinrollenden Wellen brachen. Die aufspritzende Gischt wirkte, als sei sie in der Bewegung erstarrt und in der Luft festgefroren, so dicht folgten die Sets der Wellen aufeinander.
»Gibt es Sturm?«
Jake schüttelte den Kopf, räusperte sich und schob die Decke von sich; er roch nach Holz und ganz leicht nach Schweiß.
»Auflaufende Flut, kaum Wind, kein Grund zur Sorge. Vor einem Sturm sieht’s anders aus.«
Die Wellen bauten sich aus dem Nichts auf und krachten mit dumpfem Knallen auf die Felsbänke. Die Fähre war verschwunden, dafür kämpfte sich ein Zodiak durch die kabbelige See.
»Seit wann rauchst du eigentlich wieder?«, fragte Jake leichthin.
»Rauch ich?«
»Ach komm, Co! Für jede Zigarette, die du rauchst, nimmt Gott dir zehn Minuten weg.«
»Eine, manchmal zwei am Tag, mehr nicht, Herr Lehrer.«
»Zehn Minuten, die er Keith Richards gibt.«
»Ich glaube nicht an Gott, Jake.«
»Und an die Stones?«
»Ich bin Beatles-Fan!«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Paul McCartney raucht. Du?«
Sie schüttelte den Kopf und strich ihm mit der flachen Hand über den nackten Rücken.
»Was hast du damals eigentlich in Seattle gemacht, Jake?«
»Einen Musiker besucht, für den ich eine Zwölfsaitige baute.«
»Berühmt?«
»Ein Studiomusiker und großartiger Gitarrist, den keiner kennt. Er hat mir erklärt, was für ihn die wichtigsten Werte sind: Mut. Tapferkeit. Und Sanftheit. Mutig alles in die Hand nehmen, tapfer das Scheitern ertragen und sanft sein zu Mensch und Tier. Ein halbes Jahr später war er tot. Herzinfarkt.«
Auf einen Schlag wurde es hell im Zimmer, und sie hoben gleichzeitig die Köpfe und sahen aus dem Fenster: Die Morgensonne stand jetzt hoch genug, um das Wasser zu treffen und in eine grell blitzende Fläche zu verwandeln.
»Hungrig?«, fragte Jake.
»Allerdings.«
Sie strampelte die Decke zum Fußende des Bettes, setzte sich auf ihn und zog sich das T-Shirt über den Kopf.
Kurz nach zehn traten sie aus Jakes Cottage; sie hatten gefrühstückt, nun wollte er an die Arbeit: Die Gitarre für einen Musiker aus Boston musste fertig werden. Sie umarmten und küssten sich im dichten Nieselregen vor der Werkstatttür und vereinbarten, abends zu telefonieren.
Im knöchelhohen Gras der Wiese neben ihrem Auto lag ein Ast, geschält von Wind und Wetter, dessen eigenartige Form ihr gefiel. Als sie sich danach bückte, fing es sturzbachartig an zu regnen, und sie ließ den Ast liegen und setzte sich ins Auto, ohne den Motor zu starten, um mit dem Geräusch des Regens auf dem Dach alleine zu sein. Doch sie musste den Ast mitnehmen, er passte in eines ihrer Windspiele, die der Grasshopper Shop in Rockland zu ihrer Überraschung in sein Sortiment aufgenommen hatte. Sie fädelte papierdünne Bruchstücke von Wespennestern, Bündel von Schafgarbe, getrockneten Seetang, Zweige, Äste, Muscheln und Treibholz auf dünnen Draht.
Zwei Vögel strichen dicht über die Baumwipfel auf der anderen Seite der Straße, Schwinge an Schwinge, Saatkrähen, wie sie vermutete. Schmale, vorgeschichtliche Schatten unter dem Regenhimmel, die ohne einen Ton ins Landesinnere flogen.
4 Auge um Auge
Leah Tucker fuhr ihren El Monte vorsichtig an den äußersten Rand des Grundstückes ihres Sohnes J, machte den Motor aus und blieb am Steuer sitzen, ohne sich zu rühren. Sie war müde, denn sie hatte schlecht und nur oberflächlich geschlafen.
Sie war vor wenigen Tagen aus New Hampshire angereist, wo sie zwei Wochen im Fahrgeschäft des Vergnügungsparkes Story Land gearbeitet hatte, aber das betrunkene Gegröle ihres Sohnes und seiner Kumpel und der monotone Death-Metal, den sie hörten, gingen ihr bereits so sehr auf die Nerven, dass sie darüber nachgedacht hatte, früher aus Maine abzureisen, statt wie geplant bis Dezember auf dem Grundstück ihres Sohnes stehen zu bleiben, wo sie gratis Strom beziehen und ihre beiden Wassertanks auffüllen konnte. Im Dezember würde sie wie schon seit vier Jahren zum »Amazombie« werden und in Campellsville in Kentucky im Amazon-Warenlager arbeiten. Danach würde sie nach Quartzside in Arizona fahren, um die Wintermonate wie gewohnt im Wohnmobilpark Coyote Flat zu verbringen. In Quartzside gab es ein Kaugummimuseum mit Kaugummis aus aller Welt, vielleicht schaffte sie es diesmal endlich, es zu besuchen.
Hoffentlich konnte sie am neuen Standplatz am Rand des Grundstückes besser schlafen und brauchte nicht abzureisen; sie war ausgelaugt und auf die Erholung vor der anstrengenden Arbeit bei Amazon angewiesen. Die Erde unter der mageren Grasnarbe war fest und trocken, die Gefahr, dass ihr schweres Mobil einsank und festsaß, selbst bei heftigem Regen, gering. Sie blieb hinter dem