»Wenn ich das wüsste. Vorerst vorläufig, denk ich.«
»Und wie geht es ihm?«
»Besser. Aber er ist immer noch ein Ex-Soldat. Wenn du weißt, was ich damit sagen will.«
»Arbeitet er?«
»Er hat den Fußboden im Café abgezogen und neu gestrichen. Nächste Woche will er die Toilette auf Vordermann bringen.«
»Klingt gut.«
Sie verabredeten sich für 19 Uhr. Corinna warf ihr Handy aufs Sofa und schreckte Teaser auf, die zu Boden sprang und ihr so lange mauzend um die Beine strich, bis sie ihr in der Küche eine Portion Trockenfutter in ihren Napf schüttete. Sie machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich auf das Deck in die Dunkelheit und sah Wolkenschiffen zu, die meerwärts über den Abendhimmel glitten, bis ihr kalt wurde.
Sie badete ausgiebig, brennende Kerzen auf dem Fenstersims des Bades, trocknete sich die Haare mit dem Fön, ohne in den Spiegel zu sehen, und legte sich früh schlafen, die Katze auf Michaels früherer Seite neben sich. Das eingeschaltete Handy legte sie auf das Nachttischchen, um die SMS nicht zu verpassen, die Jake ihr ziemlich sicher schrieb, wenn er wieder zu Hause war. Der Wind rüttelte an den Regenrinnen, Bäume rauschten, irgendwo in der Nachbarschaft klapperte eine Tür oder ein Fenster. Der Himmel war jetzt ein finsteres wolkenloses Gewölbe voller Sterne.
Den nächsten Tag vertrödelte sie mit unnötigen Hausarbeiten, räumte Schubladen aus und wieder ein, hängte Sommerkleider in den Schrank im Keller, trug Winterkleider ins Schlafzimmer, warf sie aufs Bett und hielt sich lange damit auf, Stücke für den Thrift Shop in Rockland oder den Secondhandladen in Camden auszusortieren.
Sie verzichtete aufs Mittagessen, aß bloß einen Apfel, putzte Küchen- und Wohnzimmerfenster. Später löschte sie alte Mails auf dem Laptop und besuchte Webseiten für Vermisste, obwohl sie sich vorgenommen hatte, es auf keinen Fall zu tun: 18-Wheel-Angels. Hope Network. Bring Joe Home. Sie klickte sich durch Galerien verschwundener Mädchen und Jungen, verlor sich in der Betrachtung unsicherer Teenagergesichter, las Botschaften verzweifelter Eltern, Verwandter und Freunde, las Aufrufe, Beschwörungen, Vermutungen und Hinweise. Etliche Jugendliche wurden seit Jahren vermisst, andere seit wenigen Tagen. Sie studierte Fotos wertloser Halsketten und Ringe, klickte sich durch Aufnahmen von Haarclips, Armbanduhren, Tops mit Spaghettiträgern, Sweatshirts mit Aufschriften, Schuhen, Unterwäsche. Sie bekam Kopfschmerzen, hatte ein unangenehmes Sirren im Kopf, und doch konnte sie sich nicht vom Bildschirm losreißen. In Begleitung eines männlichen Erwachsenen gesehen. Im Wald hinter dem BurgerKing verscharrt. Verbrannt am Rand der Interstate 95. In einer Gefriertruhe. Ehemalige Top-Leichtathletin. In Plastikfolie verpackt. Verschnürt wie ein Paket. In einem Teich versenkt. Enthauptet. Cheerleaderin. An eine Birke gefesselt, zerstückelt. Als ihr schlecht wurde, gelang es ihr, sich von den Seiten zu lösen, auszuloggen und den Laptop zuzuklappen. Sie duschte heiß und lange, hörte Paolo Contes Aguaplano, um sich abzulenken, und rauchte auf dem Deck im eiskalten Niesel zwei Zigaretten hintereinander.
Es war kühl im Haus, aber statt sich wärmer anzuziehen, drehte sie den Thermostat höher. Am späten Nachmittag erhielt sie eine SMS von Jake; es sei spät geworden gestern, sehr spät, er habe lange geschlafen wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Wartete sie eine halbe Stunde mit ihrer Antwort, weil sie enttäuscht war, dass er sich nicht früher gemeldet hatte? War sie etwa tatsächlich eifersüchtig? Mit wem hatte Jake sich getroffen? Teaser hockte auf Michaels Musiksessel und beobachtete misstrauisch jede ihrer Bewegungen, als traue sie ihr nicht.
Gegen halb sechs fuhr sie los, obwohl sie so viel zu früh ankommen würde; sie hielt es nicht länger aus in ihrem Haus und wollte in Warren im Auto warten, um nicht vor 19 Uhr an Betsys Tür zu klingeln.
10 Ein weiteres Geständnis
In Thomaston hielt sie vor dem Thomaston Grocery an der Main Street, keine hundert Meter vom Backsteingebäude entfernt, in dem sich Matt Dennisons Privatdetektei befand. Sie würde Betsy zwei Flaschen vom kalifornischen Riesling mitbringen, den der Laden im Sortiment hatte. Noch vor einem halben Jahr wäre es ihr unmöglich gewesen, Alkohol zu kaufen, selbst wenn er nicht für sie gedacht war, mittlerweile hatte sie kein Problem damit. Ihre frühere Alkoholsucht war so weit von ihrem aktuellen Leben entfernt wie ihre kürzlich überstandene Abhängigkeit von Xanax.
Es war nicht einfach, sich wieder in den Feierabendverkehr einzufädeln, die Weinflaschen neben sich auf dem Beifahrersitz in einer Papiertüte, die am eiskalten Glas festklebte. Sie hielt Abstand zum Kühllaster von SeaMazz, der bestimmt Hummer bei Norwood Lobster auf Spruce Head Island geladen hatte und jetzt auf dem Weg nach Boston war. Am Rand von Thomaston bog sie auf die Route 131 North, hatte plötzlich keine Lust mehr auf die CD mit Gitarrenmusik, die Jake für sie gebrannt hatte, und machte das Radio an. Den Song, den Frank 106.9 spielte, kannte sie aus ihrer Jugend, aber sie konnte sich weder an seinen Titel noch an den Namen der Band erinnern. Sie fuhr mit Abblendlicht, fasziniert von den gelb leuchtenden Wolkenspeeren, die Richtung Meer über den Nachthimmel trieben. Nur noch hier und da leuchteten entflammte Bäume in satten Farben in ansonsten dunklen Wäldern, die sich über Hügel hinzogen. Der Indian Summer war vorbei, die Blätter fielen. Der Winter stand vor der Tür und mit ihm die kurzen Tage und langen Nächte.
Sie hatte sich angewöhnt, Radio- und Fernsehnachrichten zwar zu hören, aber nicht zu registrieren und wie ein störendes Geräusch auszublenden. Darum dauerte es eine Schrecksekunde, bis sie Tragweite und Bedeutung der Nachricht verstand, die eben gesendet worden war. Sie ging vom Gas, bog bei der erstbesten Gelegenheit von der Route 131 ab und hielt auf einem Waldsträßchen, das sich im Dämmerlicht verlor. Chad Wright, Norman Dunbars Housekeeper, der sie in einem Wald bei Cushing mit seiner Pistole niedergeschlagen hatte, weil sie ihm nachspionierte, war in Kanada verhaftet worden und hatte neben dem Mord an seiner Frau Sky auch gestanden, Norman Dunbar im Affekt totgeschlagen zu haben, als er erfuhr, dass seine Frau ihn mit seinem Arbeitgeber betrog. Betsy hatte sie belogen: Nicht sie hatte Dunbar umgebracht, wie sie behauptet hatte, sondern Chad Wright. Betsy hatte ihr ein Märchen aufgetischt!
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