Sie wurde bereits erwartet. Mehrere blasse Gesichter wandten sich ihr zu. In manchen stand Erleichterung geschrieben, in anderen Verachtung. Dennoch war eines in allen gleich zu lesen: Respekt.
Sie waren Eremiten. Das klang vermutlich hochgestochener, als es war. Für manche barg dieses Wort jedoch eine verführerische Sehnsucht nach Gefahr und Freiheit. So nannte man jene, die aus dem Schwarm des vereinigten Erd-Kombinats ausgeschlossen waren. Im Gegensatz zu den Individualisten, welche ihren Platz als Freidenker selbst gewählt hatten, wollten diese Leute die Vorzüge eines Schwarmlebens genießen, sich dabei aber zu wenig einordnen.
Denn der Schwarm war schließlich perfekt.
Menschen waren schon immer Herdentiere. Sie benötigten enge soziale Kontakte, lebten gern gemeinsam, waren am zufriedensten, wenn jeder das Gleiche besaß, wenn die Unterschiede untereinander minimal waren. Die Vorhersagbarkeit des Alltags gab ihnen Sicherheit und Frieden. Der Rückhalt eines stetigen Einkommens und planbarer Freizeit ermöglichte eine geplante Fortpflanzung.
Es war unumstößlich effizient im Erreichen von höheren Zielen. Es gab keine Konflikte in einem Schwarmbewusstsein, jeder kannte seine Aufgabe, welche es zu erfüllen galt – ähnlich einem Bienenstock. Die Leute kehrten immer wieder zu ihren Fixpunkten zurück: Alltag, Sicherheit, Bekanntheit der Situation, Gemeinschaft, Verantwortung den Gebildeten überlassen.
Der Menschenschwarm hatte seinen Platz erkannt und lebte entsprechend: kleine schöne Wohnungen, entspannender Komfort, ein fester Arbeitsplatz mit vorgegeben Zielen, ausreichend Freizeit mit einem vielfältigen Angebot an Unterhaltung. Sicherheit im Schoße der globalen Gemeinschaft unter den Fittichen weiser Fachleute.
Willkommen im vereinigten Erd-Kombinat.
Keine Kriege, denn wir sind alle geeint. Wir sind Weltbürger. Wir sind eine Spezies. Wir haben ein gemeinsames Ziel: Fortschritt, Leben, Ausbreitung.
Babe legte ihren Handrücken vor ihren Mund und unterdrückte bei dem Gedanken an diese Leitsätze ein herzhaftes Gähnen.
Die Eremiten waren mit keiner der beiden Lebensarten sonderlich zufrieden.
Ihre genetischen Modifikationen waren meist extrem. Manche Gesichter ähnelten Tieren mehr als Menschen. Mit cybermagischen Prothesen geizte man auch nicht – man trug die glühenden Runen stolz zur Schau. Der Wunsch, größtmögliche Diversität zu zeigen, sodass es fast einer Maskierung glich, war offensichtlich.
Obwohl sie aussahen wie stumpfe, übermodifizierte Straßenschläger, welche kaum genug Intelligenz zum Sprechen hatten, waren sie oft hochgebildet. Sie kämpften für mehr Individualität im Schwarm. Man wollte Fortschritt um jeden Preis, obwohl die Geschichte gezeigt hatte, dass ein kontrolliertes Maß viel sinnvoller war.
Sie waren Hacker und Informationshändler, fühlten sich als etwas Besseres – manchmal waren sie das sogar. Natürlich nutzte man Konzepte wie Individualität und maximale Toleranz auch als Rechtfertigung für platte Parolen, Kriminalität, wilde Drogenexzesse, vulgäre Sexpraktiken und die eine oder andere Sektenhierarchie.
Die Schwarm-Identität-Scancodes im Nacken hatten einige aufgeschlitzt und vernarben lassen. Andere hatten sie mit anderen Tätowierungen überdeckt oder sie dramatisch durchstreichen lassen.
Diese Eremiten-Gang hatte es sich zum Markenzeichen gemacht, die Strich-Codes immer wieder neu aufzubringen. Sie fanden sich auf ihrer Stirn, unter ihren Augen, am Hals, am Armgelenk, auf der Brust. Die schwarzen Linien verliehen ihrem Äußeren eine Brandmarkung als Objekt, eine beißende Satire für das, wogegen sie sich stellten.
Ihre Haare waren zu opulenten Frisuren aufgesteckt. Schnecken, Wülste und geflochtene Zöpfe türmten sich hoch auf und wurden immer wieder durchbrochen von metallischen Platten. Die Kleidung war überwiegend schwarz und hatte wohl ausschließlich den Nutzen, Werkzeuge und Waffen tragen zu können.
Eremiten rotteten sich in Gangs zusammen und schufen ihre eigenen Regeln. Das war genau nach Babes Geschmack. Daher arbeitete sie gern mit ihnen zusammen oder zog mit ihnen durch die Straßen.
Freiheit ist wie Fliegen ohne Flügel, dachte Babe, als sie grinsend ihre Sonnenbrille vom Gesicht zog und begrüßend mit der Zunge schnalzte.
»Du bist verdammt spät«, grunzte ein drahtiges Mädchen mit runenumrandeten, bleichen Augen.
»Ist halt ein langer Weg hierher«, entgegnete Babe und zuckte mit den Schultern.
»Sogar die blinde Elenna war schneller als du«, stichelte ein untersetzter Typ, den sie vorher noch nie in der Gruppe gesehen hatte – ein Neuling, der seinen Platz aufzubauen versuchte.
»Kunststück!«, lachte Babe unbeschwert auf. »Mit ihrer Runen-Sicht sieht sie vermutlich in der Finsternis mehr als jeder andere. Es ist hier so dunkel wie in einem Katzenarsch.«
»Du hast doch auch ein Licht-Schnitzel«, erwiderte die drahtige Elenna und schnippte in Richtung des immer noch über Babe schwebenden Lichtes.
»Und woher weißt du, wie es in einem Katzenarsch aussieht?«, fragte der schlaksige Pea, während er aus seinem Ohr einen verehrungswürdig großen Klumpen Schmalz hervorpuhlte.
»Hast du mir doch mal erzählt«, konterte Babe, woraufhin Elenna leise kicherte. »Und diese kleine Funzel leuchtet nun mal nicht besonders hell.«
Der Lichtball machte sich nichts aus den Beschimpfungen, schließlich war er nur ein lebloser, magischer Zellhaufen – auch wenn es sich manchmal wie ein anschmiegsames Haustier verhielt. Babe dachte einfach nur das Wort Quitt. Das Licht erlosch sofort und der Fleischbatzen fiel mit einem saftigen Geräusch in ihre ausgestreckte Hand. Sie steckte ihn in ein Kästchen und verstaute es in einer ihrer Hosentaschen.
»Genug mit den Liebesbekundungen«, fuhr eine leise Stimme dazwischen. »Du bist spät, wir warten und es ist Zeit für das Geschäftliche.«
Sie gehörte Wania, der Anführerin. Babe schlängelte sich durch die anderen hindurch und trat zu ihr. Wania war kleiner als Babe, schmächtig, krumm und mindestens über siebzig Jahre alt. Ihr Schädel war kahl rasiert und in der Mitte mit Strichcodes tätowiert. Von Ohr zu Ohr umspannte sie ein metallener Ring mit verschiedensten Runen-Anschlüssen. Ein großer Mantel bedeckte ihren hageren Leib, der seltsamerweise keinerlei Licht reflektierte. Dadurch wirkte es im Dunkeln fast so, als würde sie gar keinen Körper besitzen.
Als Wania vor ein paar Jahren auf der Bildfläche erschienen war, hätte niemand gedacht, dass sie innerhalb weniger Wochen eine schlagkräftige Gang aus dem Boden stampfen würde. Doch die Eremiten ehren Wissen und sie war als ehemalige Schnittstelle eines biomagischen Rechenzentrums nicht nur ein wandelndes Lexikon für Sprachen jeglichen Jahrtausends, sondern verstand sich auch exzellent in der Planung von Hack-Angriffen. Idiotische Muskelkraft war hilfreich, aber austauschbar. Ihre Erfahrung war das nicht. Abgesehen davon, war es schon eine Kür, in ihrem Alter eine solch hochtrabende Karriere im Schwarm einfach hinzuschmeißen.
Babe hielt sich Zeige- und Mittelfinger an die Schläfe und zwinkerte ihr neckisch zu. Sie mochte die alte Kratzbürste irgendwie.
Ein lautes Klacken ertönte – Wanias Stahlsohle auf dem Boden. Das hieß so viel wie: Ich bin sauer, sei still. Dann nickte sie nach rechts. Dort stand ein schlanker Mann. Er trug normale Straßenkleidung, keine offensichtlichen Modifizierungen am Körper. Doch sein Blick hatte etwas Seltsames an sich. Er wirkte gehetzt und fremd … irgendwie wild. Das musste der Auftraggeber sein.
»Ein Werwesen will sich mit dem Schwarm anlegen?«, fragte Babe überrascht. »Ich hätte vermutet, dass ihr einen Mittelsmann habt. Nachdem man für eure Art Reservate eingerichtet hat, gab es keinerlei Auseinandersetzungen mehr.«
»Keine Offenen zumindest«, berichtigte Wania und lächelte dünn.
Interessant, dachte Babe, tippte sich gegen ihr