Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Olga Tokarczuk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701231
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seiner Uniform gar nicht umfassen konnte. Aus Scham versteckte sich dieser Bauch irgendwo dort unten, in den unbequemen, vergessenen genitalen Regionen. Seine Schnürsenkel waren gelöst, sicher hatte er unter dem Tisch die Schuhe ausgezogen. Jetzt musste er sie so schnell wie möglich wieder anziehen.

      »Würden Sie mir Ihr Geburtsdatum verraten?«, fragte ich ihn höflich, schon bei der Tür. Er blieb überrascht stehen.

      »Wozu brauchen Sie das?«, fragt er argwöhnisch, während er mir die Tür zum Flur aufhielt.

      »Um Ihr Horoskop zu berechnen«, antwortete ich. »Möchten Sie? Ich könnte Ihnen Ihr Horoskop erstellen.«

      Ein amüsiertes Grinsen verzog sein Gesicht.

      »Nein danke. Ich interessiere mich nicht für Astrologie.«

      »Sie könnten erfahren, was im Leben noch auf Sie zukommt. Möchten Sie das nicht?«

      Er warf dem Polizisten an der Rezeption einen vielsagenden Blick zu, feixte ironisch, als nähme er an einem lustigen Kinderspiel teil, und gab mir alle Daten. Ich notierte sie, dankte ihm, zog mir die Kapuze über den Kopf und wandte mich zum Ausgang. Beim Hinausgehen hörte ich noch, wie beide lachend losprusteten, und ich konnte die Worte verstehen: »Eine Wahnsinnige. Richtig besessen.«

      Am selben Abend, als es schon dunkel war, begann die Hündin von Bigfoot wieder zu winseln. Die Luft war blau, scharf wie ein Rasiermesser, und die dumpfe, heisere Hundestimme hatte etwas Beunruhigendes. Der Tod steht vor der Tür, dachte ich. Doch der Tod steht immer vor unserer Tür, zu jeder Tages- und Nachtzeit, sagte ich mir darauf. Am besten ist es, mit sich selbst zu sprechen. Dann kommt es wenigstens nicht zu Missverständnissen. Ich legte mich auf das Küchensofa und war nicht imstande, etwas anderes zu tun, als diesem durchdringenden Gewinsel zuzuhören. Als ich einige Tage zuvor zu Bigfoot gegangen war, um zu intervenieren, hatte er mich nicht einmal in sein Haus gelassen. Er hatte gesagt, ich solle mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angingen. Dieser Unmensch hatte seine Hündin nur für wenige Stunden nach draußen gelassen und sie dann später doch wieder in das Verließ gesperrt, wo sie die ganze Nacht durch heulte.

      Ich lag also auf dem Küchensofa und versuchte vergeblich, an etwas anderes zu denken. Ich spürte, wie eine juckende, vibrierende Energie allmählich meine Muskeln durchdrang. Bald würde sie meine Beine zur Gänze ausfüllen.

      Ich stand auf, zog Stiefel und Jacke an, nahm einen Hammer und eine Metallstange und alles Werkzeug, das mir unter die Finger kam. Kurz darauf stand ich atemlos vor dem Schuppen. Bigfoot war nicht zu Hause, es brannte kein Licht, der Kamin rauchte nicht. Er hatte den Hund eingesperrt und war für unbestimmte Zeit verschwunden. Doch auch wenn er zu Hause war, sperrte er den Hund ein. Nach einigen Minuten Arbeit, bei der ich ins Schwitzen kam, gelang es mir, die Holztür aufzubrechen. Die Bretter neben dem Schloss lockerten sich, und ich konnte den Riegel herausschieben. Drinnen war es dunkel und feucht, einige alte, verrostete Fahrräder, Plastikkanister und anderes Gerümpel lagen herum. Die Hündin stand auf einem Bretterstapel, sie trug einen Strick um den Hals, der an der Wand festgebunden war. Es stank nach dem Haufen mit Exkrementen hinter dem Stapel, sie hatte offenbar immer auf die gleiche Stelle gemacht. Unsicher wedelte sie mit dem Schwanz, doch dann blickte sie mir erfreut entgegen. Ich schnitt den Strick durch, packte das eine Ende und ging mit ihr zu mir nach Hause.

      Mir war nicht ganz klar, was ich tun sollte. Manchmal, in Momenten des Zorns, scheint alles ganz simpel und selbstverständlich zu sein. Der Zorn bringt Ordnung mit sich, er zeigt die Welt in offensichtlicher Kurzfassung, der Zorn bewirkt auch die Gabe des Hellsehens, was in keinem anderen Gemütszustand möglich ist.

      Die Hündin legte sich in meiner Küche auf den Boden, und ich wunderte mich einmal mehr darüber, wie winzig sie war. Ihr dumpfes Winseln klang so, als käme es von einem größeren Hund, wenigstens so groß wie ein Spaniel. Sie war einer dieser lokalen Hunde, die man »Sudetenmonstrum« nennt, weil an ihnen nichts Hübsches ist. Sie haben kurze, dürre, meistens krumme Beinchen, ihr Fell ist stumpf und schmutzigbraun, sie tendieren zum Dickwerden, und vor allem haben sie einen deutlichen Unterbiss. Nun gut, sie würde keinen Schönheitswettbewerb gewinnen, unsere Sängerin der Nacht.

      Sie war nervös und zitterte am ganzen Leib. Nachdem sie einen halben Liter warmer Milch getrunken hatte, von der ihr Bauch rund wie ein Ball war, teilte ich auch ein Butterbrot mit ihr. Ich war nicht auf einen Gast vorbereitet, also verströmte mein Eisschrank von innen den Glanz der Leere. Ich sprach beruhigend auf die Hündin ein, erklärte ihr jede meiner Bewegungen, und sie sah mich fragend an, da sie sichtlich nicht verstand, was diese plötzliche Wende in ihren Lebensumständen bedeutete. Ich legte mich auf das Küchensofa und redete ihr zu, sie solle auch für sich ein Plätzchen zum Schlafen suchen. Schließlich kroch sie unter den Heizkörper und schlief ein. Da ich sie über Nacht nicht allein in der Küche lassen wollte, blieb ich einfach auf dem Sofa liegen.

      Ich schlief unruhig, irgendwie wurde mein Körper ständig von den erlebten Aufregungen überrollt, die immer wieder die gleichen Träume nach sich zogen, von überheizten, berstenden Öfen, von riesigen, unendlichen Heizräumen mit rot glühenden Wänden. In Öfen eingesperrte Flammen verlangten tosend nach Befreiung, um dann schrecklich explodierend auf die Welt überzuspringen und alles einzuäschern. Diese Träume könnten aber auch die Folge eines nächtlichen Fiebers gewesen sein, das oft mit meinem Leiden einhergeht.

      Ich erwachte früh morgens, als es noch dunkel war, mit steifem Hals von der unbequemen Schlafhaltung. Die Hündin stand an meinem Kopfende und sah mich durchdringend an, sie fiepte erbärmlich. Stöhnend stand ich auf, um sie hinauszulassen. Schließlich hatte sie am Vorabend eine große Menge Milch getrunken. Durch die offene Tür drang kalte, feuchte Luft ins Haus. Sie roch nach Erde und Fäulnis – wie ein Grab. Die Hündin sprang hinaus und pinkelte, indem sie ein Hinterbein in die Luft streckte. Das sah komisch aus, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie ein Männchen oder Weibchen sei. Dann sah sie mich traurig an, ich könnte fast sagen, sie blickte mir tief in die Augen – und rannte schnurstracks zum Haus von Bigfoot.

      So kehrte sie in ihr Gefängnis zurück.

      Sie war verschwunden. Ich rief nach ihr, ich ärgerte mich, dass ich mich so leicht hinters Licht hatte führen lassen, und ich war ratlos angesichts der Mechanismen der Gefangenschaft. Schon wollte ich mir die Schuhe anziehen, um hinauszugehen, doch der schreckliche, graue Morgen ängstigte mich. Manchmal scheint mir, als lebten wir in einer riesigen, geräumigen Gruft für viele Personen. Ich blickte auf die Welt, eingehüllt in den grauen, kühlen, unangenehmen Morgendämmer. Das Gefängnis ist nicht außen, es steckt in jedem von uns. Vielleicht können wir ohne es nicht leben.

      Einige Tage später, noch bevor der große Schnee fiel, sah ich den großen Polonez der Polizei vor Bigfoots Haus. Ich muss zugeben, dass mich dieser Anblick freute. Ja, es erfüllte mich mit großer Zufriedenheit, dass die Polizei endlich zu ihm gekommen war. Ich legte mir zwei Patiencen, und sie gingen auf. Ich stellte mir vor, dass sie ihn festnahmen, ihn in Handschellen abführten, seine Drahtvorräte konfiszierten und ihm die Kettensäge abnahmen – für ein solches Utensil sollte man eine ähnliche Genehmigung verlangen wie für eine Waffe, denn sie richtet unter den Pflanzen große Verwüstungen an. Doch das Auto fuhr ohne Bigfoot wieder weg, und dann wurde es schnell dunkel und begann zu schneien. Die zurückgesperrte Hündin winselte den ganzen Abend. Das erste, was ich am darauffolgenden Morgen im makellosen Neuschnee sah, waren die verwackelten Spuren von Bigfoot und gelbe Urinspuren an meiner Silberfichte.

      Das alles fiel mir ein, als ich mit Matoga am Tisch saß. Und meine Mädchen.

      Matoga, der aufmerksam meinen Erzählungen zugehört hatte, kochte weiche Eier und servierte sie in Porzellanschälchen.

      »Ich habe nicht so ein Vertrauen in die Obrigkeit wie du«, sagte er. »Man muss alles selber machen.«

      Ich weiß nicht, was er damals meinte.

      3 Das Ewige Licht

      »Was sterblicher Geburt entspross,

      Muss wieder in der Erde Schoß.«

      Als ich nach Hause kam, war es schon hell, und ich war nicht ganz bei mir. Wieder schien