Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Olga Tokarczuk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701231
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an diesem Morgen konnte man von niemandem besondere Redseligkeit verlangen. Wir waren einfach nur bedrückt.

      Andererseits war ich erleichtert. Manchmal, wenn man sein Denken weiter fasst und die Gewohnheiten des Geistes ebenso mit einbezieht wie die Bilanz der Tätigkeiten, wird einem klar, dass das Leben des einen nicht in jedem Fall gut für die anderen ist. Ich glaube, jeder wird mir Recht geben.

      Ich bat um ein weiteres Glas Tee, eigentlich nur, um ihn mit dem hübschen Löffel umzurühren.

      »Einmal habe ich mich wegen Bigfoot bei der Polizei beschwert«, sagte ich.

      Matoga hielt kurz beim Trockenreiben eines Kuchentellers inne.

      »Wegen dem Hund?«, fragte er.

      »Ja. Und wegen Wilderei. Ich habe eine Klage verfasst.«

      »Und? Was dann?«

      »Nichts.«

      »Willst du sagen, es ist gut, dass er jetzt tot ist?«

      Noch vor letzten Weihnachten war ich zur Gemeinde gegangen, um den Fall persönlich anzuzeigen. Bis dahin hatte ich Briefe geschrieben. Niemand hatte darauf geantwortet, obwohl es eine gesetzliche Verpflichtung dazu gibt. Die Polizeidienststelle war winzig und erinnerte mit ihren überhaupt nicht zusammenpassenden Materialien an ein tristes Einfamilienhaus aus kommunistischen Zeiten. Dementsprechend war auch die Stimmung. Die mit Ölfarbe gestrichenen Wände waren über und über mit Zetteln bedeckt, die allesamt mit »Bekanntmachung« überschrieben waren – übrigens ein fürchterliches Wort. Die Polizei verwendet ziemlich viele ausnehmend abstoßende Worte, etwa »Mordopfer« oder »Lebensgefährte«.

      In dieser Stätte Plutos war es zuerst ein junger, hinter einer Holzschranke sitzender Mann, der versuchte, mich abzuwimmeln. Später übernahm sein älterer Vorgesetzter den Job. Ich wollte den Kommissar sprechen und ließ mich nicht abweisen. Ich vertraute darauf, dass letztlich beide die Geduld mit mir verlieren und mich ihm vorführen würden. Man ließ mich lange warten, und ich fürchtete schon, die Geschäfte könnten schließen, denn ich hatte noch Einkäufe zu erledigen. Es dämmerte bereits, also es war etwa sechzehn Uhr, ich hatte zwei Stunden gewartet.

      Endlich, kurz vor Ende der Amtszeit, erschien im Flur eine junge Frau. »Bitte, Sie können hineingehen.«

      Ich war in Grübeleien versunken, doch was ich jetzt brauchte, war Geistesgegenwart. Als ich der Frau zur Audienz in den ersten Stock folgte, wo der Chef der lokalen Polizei sein Arbeitszimmer hatte, sammelte ich meine Gedanken.

      Es war ein beleibter Mann, etwa in meinem Alter, doch er sprach mich so an, als sei ich seine Mutter oder sogar Großmutter. Er warf mir einen flüchtigen Blick zu und sagte:

      »Setzen, bitte.« Als er merkte, dass er mit diesem Infinitiv seine Unbildung verraten hatte, räusperte er sich und korrigierte sich.

      »Bitte, nehmen Sie Platz.«

      Ich konnte seine Gedanken beinahe hören, bestimmt nannte er mich erst »Frauenzimmer« und, als meine Klagerede nachdrücklicher wurde, »Weib«, und zum Schluss »Besessene« bzw. »Wahnsinnige«. Es war nicht zu übersehen, mit welcher Aversion er meine Bewegungen verfolgte und wie sehr er meinen Geschmack verurteilte. Weder meine Frisur gefiel ihm noch meine Kleidung noch meine mangelnde Unterwürfigkeit. Er musterte mein Gesicht mit wachsendem Widerwillen. Doch auch ich nahm eine Menge wahr – dass er Apoplektiker war, dass er zu viel trank und eine Schwäche für fettes Essen hatte. Während meines Monologs überzog eine leichte Röte seinen großen, kahlen Kopf bis zur Nasenspitze, auf seinen Wangen erschien deutlich ein Geflecht aus erweiterten Adern, wie eine phantastische Kriegstätowierung. Sicher war er es gewohnt, Befehle zu erteilen und von Anderen Gehorsam zu ernten, und sicher kam er leicht in Rage. Eine typische Jupiterpersönlichkeit.

      Ich sah auch, dass er nicht alles verstand, was ich sagte, einerseits aus dem offensichtlichen Grund, dass ich mich einer ihm fremden Argumentation bediente, andererseits aber auch, weil sein Wortschatz nicht ausreichte. Er war einer von den Menschen, die all das verachten, was sie nicht verstehen.

      »Er ist eine Bedrohung für viele Lebewesen, für Mensch und Nichtmensch.« Das war der Schluss meiner Anklage gegen Bigfoot, die meine Beobachtungen und meinen Verdacht enthielt.

      Er wusste nicht, ob ich mich über ihn lustig machte oder ob er wirklich an eine Wahnsinnige geraten war. Andere Möglichkeiten gab es für ihn keine. Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, typisch für diese Art der Pykniker, die irgendwann einen Schlaganfall erleiden.

      »Wir haben nicht gewusst, dass er wildert. Wir werden uns darum kümmern.« Er biss die Zähne zusammen. »Bitte gehen Sie jetzt nach Hause und denken Sie nicht mehr daran. Ich kenne ihn bereits.«

      »Gut«, sagte ich versöhnlich.

      Er stand auf, stützte sich auf die Hände, was ein sichtbares Zeichen dafür war, dass er die Audienz für beendet hielt.

      Wenn man etwas in die Jahre gekommen ist, muss man damit rechnen, dass die Menschen ungeduldig mit einem umgehen. Ich wäre früher nicht auf die Idee gekommen, bestimmte Gesten so zu deuten. Ein etwas zu rasches Kopfnicken, dem Blick ausweichen, ständig wie ein Papagei »ja, ja« sagen, verstohlen nach der Uhr schielen, sich an der Nase reiben – heute verstehe ich gut, dass dieses ganze Getue nur eines heißen soll, nämlich »Lass mich doch endlich in Ruhe, du lästige Alte«. Manchmal frage ich mich, ob man einen smarten jungen Mann oder eine gut gebaute Brünette, die das gleiche Anliegen haben wie ich, genauso behandeln würde.

      Der Kommissar erwartete offensichtlich, dass ich vom Sitz aufspränge und das Zimmer verlasse. Doch ich hatte ihm noch eine mindestens ebenso wichtige Sache zu kommunizieren.

      »Dieser Mensch sperrt seine Hündin den ganzen Tag im Schuppen ein. Das Tier winselt und friert, denn der Schuppen ist nicht isoliert, und dort zieht es. Kann die Polizei da etwas tun, ihm das Aufsichtsrecht über den Hund entziehen, ihn exemplarisch irgendwie bestrafen?«

      Er sah mich einen Moment schweigend an, und die Verachtung, die ich von Anfang an bei ihm gespürt hatte, stand ihm jetzt überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Seine Mundwinkel waren herabgezogen und die Lippen leicht aufgeworfen. Er versuchte offensichtlich seinen Gesichtsausdruck zu beherrschen. Zu diesem Zweck hatte er ein starres Lächeln aufgesetzt, das seine großen, vom Rauchen gelben Zähne enthüllte. Er sagte: »Liebe Frau, das ist nicht die Sache der Polizei. Ein Hund ist ein Hund. Auf dem Land ist auf dem Land. Was haben Sie denn erwartet? Ein Hund gehört in die Hütte und an die Kette.«

      »Wenn etwas Böses passiert, dann melde ich es eben der Polizei. Wohin soll ich mich denn wenden, wenn nicht an die Polizei?« Er lachte heiser. »Wenn es etwas Böses ist, das Sie bemerkt haben, dann wenden Sie sich bitte an den Pfarrer.« Er freute sich über seinen eigenen Humor, bemerkte aber offenbar doch, dass mich sein Scherz nicht sonderlich amüsierte, denn sein Gesicht wurde sofort wieder ernst. »Es gibt sicher irgendwelche Tierschutzvereine oder etwas in der Art. Das finden Sie im Telefonbuch. Die Liga zum Schutz der Tiere – dort können Sie hingehen. Wir sind die Polizei, und die ist zuständig für die Menschen. Bitte, rufen Sie in Wrocław an. Dort gibt es einen Bereitschaftsdienst.«

      »In Wrocław!«, rief ich. »Das ist nicht Ihr Ernst. Das hier fällt doch in den Zuständigkeitsbereich der lokalen Polizei, ich kenne das Gesetz.«

      »Oho.« Er lachte ironisch. »Dann können Sie mir vielleicht auch gleich verraten, was in meinen Zuständigkeitsbereich fällt und was nicht?«

      In meiner Phantasie sah ich unsere Heere, die sich kampfbereit gegenüberstanden.

      »Ja, sehr gerne.« Ich holte zu einem längeren Vortrag aus.

      Er sah panisch auf seine Uhr, und ich bemerkte, wie er sich anstrengte, um seine Abneigung gegen mich im Zaum zu halten.

      »Also gut, wir werden uns die Sache ansehen«, sagte er gleichgültig und begann die Papiere auf seinem Schreibtisch zusammenzupacken und in seine Aktentasche zu stecken. Er wich mir aus.

      Ja, ich konnte ihn nicht ausstehen. Mehr noch: Ich spürte, wie mich eine heftige Welle der Abneigung gegen ihn überrollte, beißender als Meerrettich.