Ich habe versucht, ihnen Antwort zu erteilen.
Ich habe die Irrtümer, die Fehler, die ihre Väter begehen konnten, nicht verheimlicht. Diese aber sind dafür nicht allein und auch nicht völlig verantwortlich.
Koalitionskriege und gemeinschaftlich errungene Siege erfordern auch gemeinschaftliche Friedensschlüsse. Es sind Kompromissfrieden, in denen sich die Widersprüche zwischen den Siegern spiegeln und die in sich Keime der Auflösung bergen. Das strenge Urteil über den Frieden von Versailles ist zweifellos nicht unbegründet. Aber darf dieses nicht gemildert werden angesichts des Schauspiels, das uns die Sieger von 1945 bieten, die noch heute unfähig sind, sich – selbst in einem schlechten Vertrag – über das Schicksal Deutschlands und Österreichs zu einigen?
Weder 1919 noch im Laufe der folgenden Jahre ist auf die Stimme Frankreichs gehört worden. Seine Ratschläge wurden oft von seinen Verbündeten nicht beachtet. Nachdem die Vereinigten Staaten das Zusammenwirken mit den Alliierten aufgegeben hatten, musste unser Land manches Zugeständnis machen, von dem schwerwiegenden Bedenken geleitet, die Bande der Solidarität und Freundschaft mit Großbritannien nicht zu zerreißen. Es ist heute leicht, den französischen Regierungen vorzuwerfen, nicht genug Energie bewiesen und in der Führung der Außenpolitik nicht mehr Unabhängigkeit bekundet zu haben. Doch sobald sie es zu einer Spannung und Verschärfung der Beziehungen zu London kommen ließen, wurden sie von den parlamentarischen Mehrheiten gestürzt. Dagegen waren sie der Zustimmung der Kammern sicher, wenn sie sich rühmen konnten, um den Preis eines Verzichtes unsere enge Freundschaft mit den Nachbarn jenseits des Kanals gefestigt zu haben. Raymond Poincaré wurde von der Wählerschaft verleugnet und als Ministerpräsident gestürzt, weil er trotz Tadel und Widerstand des britischen Kabinetts dem widerspenstigen Deutschland die starke Hand gezeigt und das Ruhrgebiet besetzt hatte. Und die Erinnerung an diesen Vorgang lastete auf seinen Nachfolgern wie auf ihm selbst.
Somit könnte ein Bericht über die Ereignisse, die sich von 1919 bis 1939 abspielten, leicht zu einer Anklage gegen England werden. Auf diesen Abweg wollte ich mich nicht begeben. Wir müssen die Engländer nehmen, wie sie sind, mit ihren Fehlern und Vorzügen, ebenso wie sie sich mit uns, wie wir nun einmal sind, abfinden müssen. Eine höhere und dauernde Interessengemeinschaft verbindet die beiden Völker. Die Freiheit Europas, wenn nicht der Weltfriede, beruht auf diesem Einvernehmen. Jedes Mal, wenn Europas Freiheit in Gefahr ist, finden sie sich Seite an Seite zu ihrer Verteidigung zusammen. Wir hatten also nicht unrecht, guten Beziehungen zu den Briten einen großen Wert beizumessen. Dank dieser Haltung konnten wir mit ihnen gegen den Ansturm der nazistischen Heere kämpfen, konnten unsere Widerstandsbewegung sogleich nach der Invasion von 1940 auf sie stützen und die entscheidende Hilfe von den Vereinigten Staaten erhalten.
Nichtsdestoweniger ist das Bedauern gestattet, dass nach dem Siege von 1945 die Ansicht Frankreichs bei den Beratungen seiner Alliierten nicht schwerer ins Gewicht fällt, sobald es sich darum handelt, festzusetzen, wie das niedergeschlagene Deutschland sowohl zu einem normalen Leben inmitten der anderen Nationen zurückgeführt als auch für die Zukunft unbedrohlich gemacht werden könnte. Die rassische Verbundenheit führt die Angelsachsen zu dem Glauben, sie seien bessere Kenner der deutschen Psychologie als wir Franzosen. Tatsächlich aber setzt dies sie der Gefahr aus, sich leichter missbrauchen zu lassen. Eine enge Nachbarschaft, jahrhundertealte Berührungen, wiederholte Konflikte und mehrfaches Unheil haben uns reichere Erfahrung beschert. Man täte gut daran, ihr mehr Rechnung zu tragen. Letzten Endes ist es ein psychologischer Irrtum, der die Misserfolge in der Zeit zwischen den zwei Kriegen einleitete. Die Sieger von 1918 beachteten nicht genügend die Deutung, die Deutschland seiner Niederlage vor der Welt und vor sich selbst gab. Sie erforschten die Mentalität der Deutschen nicht gründlich genug, die es Wilhelm II. weniger übelnahmen, dass er eine Politik betrieben hatte, die sie im Grunde billigten, als dass er diese Politik nicht bis zum Erfolg zu führen verstand. Dieses grundlegende Missverständnis wird im Allgemeinen nicht genügend in das rechte Licht gerückt. Alles, was sich in der Folge begab, leitet sich aber daraus ab, in einer Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die so lückenlos ist, dass man bei ihrer Betrachtung dem Ablaufen eines unwiderstehlichen Mechanismus zuzusehen glaubt.
Wenn man überdies die Periode zwischen den beiden Kriegen gerecht beurteilen will, muss man einen ihrer charakteristischen Züge berücksichtigen. Vor 1914 kümmerte sich die Öffentlichkeit recht wenig um Außenpolitik. Sie nahm in den meisten Zeitungen einen sehr beschränkten Raum ein. Die ihr vorbehaltene Spalte war zweitrangig. Selten fanden ihretwegen im Parlament Debatten statt, an denen dann meist nur ehemalige Ministerpräsidenten, ergraute Deputierte und Senatoren teilnahmen, die zuvor den Minister von ihrer Stellungnahme in Kenntnis gesetzt hatten. Die Diplomatie stellte sich weder in der parlamentarischen Arena noch auf offenem Markt zur Schau. Sie leistete ihre Arbeit in taktvoller Zurückhaltung, auf die gewohnheitsgemäß Rücksicht genommen wurde.
Nach 1919 nimmt alles einen anderen Lauf. Die breite Masse macht der Diplomatie heftige Vorwürfe, bezeichnet sie als Geheimdiplomatie und klagt sie an, den Krieg heraufbeschworen zu haben. Sie dringt in das Gehege ein, in das sich die Diplomatie zurückgezogen hat. Sie verlangt, alles zu erfahren, äußert sich lärmend über die geringfügigsten diplomatischen Schritte. Jeden Augenblick wirkt sie auf die Entschlüsse der Regierungen ein. Die Außenpolitik tritt in den Vordergrund der Zeitungspolemik. Sie bildet ein Hauptstück der Wahlprogramme. Sie wird zur Parteisache. Sie ist Gegenstand ständiger und leidenschaftlicher Auseinandersetzungen in den parlamentarischen Kreisen. Der mit ihr betraute Minister ist der Erregung, den Stimmungsschwankungen und dem Druck einer eher gefühlsmäßig als überlegt reagierenden Masse ausgesetzt, die bisweilen von außen beeinflusst wird. Ist dies ein Vorteil oder ein Nachteil? Ich fürchte, dass die »Diplomatie der Straße« mehr als einen Anlass bietet, sich nach der sogenannten Geheimdiplomatie zurückzusehnen, dass sie viel mehr Schaden anrichtet als diese und in Wirklichkeit die Verneinung aller Diplomatie ist. Aber sei es, wie es ist, in der Folge dieses Zustandes tragen die Völker mehr als früher die unmittelbare Verantwortung für die Handlungen ihrer Regierungen und die Fehler, die sie diesen zuschreiben, fallen ihnen oft selbst zur Last. Die öffentliche Meinung, nicht nur in Frankreich, gefiel sich in der Vorstellung, der Krieg von 1914–1918 habe den Schlussstrich unter ein Kapitel der Menschheitsgeschichte gezogen und das Zeitalter der Kriege sei nunmehr abgeschlossen. Sie interessierte sich nicht mehr für die Wehrpflicht. Sie setzte ihr ganzes Vertrauen in den Völkerbund, in die Idee der kollektiven Sicherheit und die automatische Ausschaltung des Krieges durch die Organisation des Friedens. Sie verfiel in eine Art Friedenspsychose und machte sich hiervon nur mühsam, ungern und zu spät frei. Sie hörte nicht auf die Warnungen derer, die sie aufzuwecken und ihren Blick auf bedrohliche Erscheinungen zu lenken suchten, die allerdings ihren vorgefassten Ansichten zuwiderliefen. Trotz der Speichelleckerei der Demagogen, die den Massen einreden wollen, sie besäßen alle Tugenden, werden Klugheit und Scharfblick immer Eigenschaften einer nur kleinen Elite sein.
Haben wir, wie uns oft vorgeworfen wird, der Rachsucht die Zügel schießen lassen? Haben wir durch unsere Forderungen und unsere Unnachgiebigkeit dazu beigetragen, die Weimarer Pseudodemokratie in Verruf zu bringen? Haben wir in Deutschland die nationalistische und kriegerische Glut geweckt, die sich in Hitler, diesem plebejischen Wilhelm II., verkörperte? Um die Wahrheit frei zu sagen: Diese Glut war nie erloschen. Sie glomm unter der dünnen Aschenschicht weiter, mit der man sie zugedeckt hatte. Sie verbarg sich so lange, wie es unklug war, sie offen zutage treten zu lassen. Dennoch gab es viele Franzosen, die aufrichtig wünschten, der deutsch-französische Zweikampf möge ein Ende nehmen, die von ganzem Herzen die Versöhnung anstrebten und sich allen Bemühungen um Annäherung anschlossen. Allerdings sollte nach ihrer Ansicht der Versailler Vertrag die Grundlage dieser Annäherung bilden. Sie glaubten nicht, dass seine Bedingungen übertrieben und ungerecht seien. Sie sahen in ihnen eine natürliche Entschädigung