Im Übrigen hatte der Völkerbund einen mehr platonischen als praktischen Charakter. Er war sowohl im Rat als auch in der Vollversammlung einer einstimmigen Beschlussfassung unterworfen. Dies lähmte ihn, so wie heute das Vetorecht die UNO, seine Nachfolgerin, lähmt.
Gegen den Wunsch der französischen Vertreter verfügte der Völkerbund über keine bewaffnete Streitmacht, um seine Beschlüsse durchzusetzen. Er hatte keinen Gendarmen, keine weltliche Streitmacht, um sich Achtung zu verschaffen.
Immerhin versprachen seine Mitglieder, sich gemeinsam jedem Angriff oder jeder Angriffsdrohung gegen einen von ihnen zu widersetzen. In diesem Fall sollte der Völkerbund die notwendigen Maßnahmen treffen. Der Artikel 10 besagte nichts mehr darüber. Artikel 16 ging einen Schritt weiter. Er verfügte die wirtschaftliche und finanzielle Boykottierung des Angreifers und beauftragte den Völkerbundsrat, den beteiligten Regierungen die Stärke der Streitkräfte zu empfehlen, mit denen die Bundesmitglieder ihrerseits an der Aufstellung der bewaffneten Macht teilzunehmen hätten, die zur Wahrung der Bundespflichten bestimmt sein sollte. Aber auch da handelte es sich lediglich um eine Empfehlung, und die Bereitstellung eines rasch und wirksam funktionierenden Sanktionsmechanismus wurde niemals näher festgelegt, geschweige denn automatisch einsetzende Sanktionen.
Des Weiteren gestattete die Völkerbundssatzung den Abschluss regionaler Verträge. Hierdurch gab sie in einer Vereinigung, die eine einzige Familie hätte bilden sollen, besonderen Gruppierungen von Nationen Raum, was bei den übrigen Misstrauen und Eifersucht hervorrief.
Im Grunde setzte das Statut bei den Bundesmitgliedern den guten Willen und die Zustimmung zur Aufgabe eines Teils ihrer nationalen Souveränitätsrechte zugunsten der internationalen Obrigkeit voraus. Nicht ein Einziges von ihnen war dazu bereit. Es setzte ferner voraus, dass der von dem Rat oder der Bundesversammlung ausgeübte moralische Druck die Friedensstörer der Ordnung wieder zuführt und sich diese damit begnügten, sich an das Schiedsgericht oder den ständigen internationalen Gerichtshof zu wenden. Voraussetzung für diesen moralischen Druck war wieder eine enge Solidarität zwischen den Nationen. Diese hatte sich aber schon unter den Siegern während der Friedensverhandlungen als fragwürdig erwiesen. Sie verstärkte sich in der Folgezeit nicht, sondern schwächte sich noch ab.
Nachdem Genf schöne Tage erlebt hatte, wurde es bald der Schauplatz eines eigenartigen Parlamentarismus mit seinen verschiedenen Kundenkreisen, seinen Kulissenmanövern, pomphaften Reden, wohl abgewogenen und in spezifischem Genfer Stil abgefassten Anträgen. Es bestand keine Übereinstimmung mehr zwischen der Atmosphäre der internationalen Hauptstadt und derjenigen der Hauptstädte der einzelnen Länder; und überall versiegte allmählich die anfängliche Begeisterung der öffentlichen Meinung.
Die zusätzliche Sicherheitsgarantie, die Frankreich im Völkerbund finden konnte, war also, wenn nicht gleich Null, so doch keineswegs von Dauer. Sie war problematisch. Sie hing davon ab, was der Völkerbund selbst wurde, von der Macht und Autorität, die er sich zu erwerben und die er auszuüben wusste. So wie Frankreich hinter den Reparationen herlaufen musste, so musste es auch hinter einer Sicherheit herlaufen, die ihm der Versailler Vertrag nur zur Hälfte und zeitlich beschränkt garantierte, und der Amerika neun Monate nach der Unterzeichnung durch Verleugnung Wilsons, durch die des anglo-amerikanischen Sicherheitspaktes und des Völkerbundes einen furchtbaren Schlag versetzte. Darauf wollte Raymond Poincaré hinweisen, als er sagte, dass »der Versailler Vertrag keinen Abschluss, sondern eine fortdauernde Neuschöpfung darstelle«. Der Vertrag war vielmehr der Schöpfer immer neuer Schwierigkeiten, und auf seinem Weg türmten sich bei jedem Schritt Hindernisse auf.
DER DEUTSCHE WIDERSTAND GEGEN DIE DURCHFÜHRUNG DES VERTRAGES VON VERSAILLES
Die Veröffentlichung der Friedensbedingungen rief bei den Deutschen tiefe Bestürzung hervor. Vielleicht zum ersten Mal wurde sich das ganze Land über die Katastrophe klar, in die es gestürzt worden war. Es hatte sich in Gedanken gewiegt, es habe während des Krieges Wundertaten vollbracht und sei nicht wirklich besiegt; infolgedessen werde mithilfe Wilsons und seiner vierzehn Punkte der Friede erträglich werden. Der Waffenstillstand schien ihm unnatürlich hart zu sein. Aber die Freude darüber, dass der Krieg, dessen man müde war, ein Ende hatte, schwächte die Befürchtungen ab. Die Verhandlungen und Fortschritte der Versailler Friedenskonferenz wurden ohne sonderliche Aufmerksamkeit verfolgt. Man wusste nicht, ob den Zeitungsnachrichten zu trauen sei.
Jacques Benoist-Méchin, dessen Verfehlungen den Wert seines Buches Die Geschichte des deutschen Heeres nicht beeinträchtigen, beschreibt das Bild, das Deutschland damals in seiner Wut, Ratlosigkeit und Bestürzung bot, mit folgenden Worten: »Jetzt ist sie wirklich da, die Niederlage, mit ihrem Gefolge von Lasten und Demütigungen: die Zahlung einer Kriegsentschädigung, deren Höhe nicht festgelegt ist, der Verlust Posens, Schlesiens, Westpreußens, die Zerschneidung des Reichsgebiets in zwei Stücke, die Herabsetzung der Heeresstärke auf hunderttausend Mann, die Auflösung des Großen Generalstabes und die Auslieferung der Kriegsschuldigen; das sind nur allzu sichtbare Forderungen, über die man sich nicht hinwegzutäuschen vermag. Zum ersten Mal ermisst Deutschland die ganze Tragweite seiner Niederlage. Es steht an dem tragischen Wendepunkt seiner Geschichte. Ein Sturm der Panik rast über das Land. Überall in den Stäben, in den Ministerien, in den Wandelgängen der Nationalversammlung bilden sich ängstliche Gruppen und versuchen, sich zu verständigen. Was soll man tun? Unterzeichnen? Nicht unterzeichnen?
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