»Das war Glück.«
»Den Tisch gibt es jetzt nicht mehr.« Sie krempelte bereits ihre Ärmel hoch. »Ich habe Helfer eingeteilt, die aus der Küche heißes Wasser und desinfizierende Kräuter holen. Dadurch können wir ein paar Verletzte stabilisieren, bis ihr soweit seid.«
»Meine Essenz geht jetzt schon zur Neige«, sagte Alex leise. »Wir können nicht mehr lange so weitermachen.«
Annora hielt inne, ihr Blick schweifte ab. Dann nickte sie nachdrücklich. »Jeder Geheilte leitet seine Essenz in einen Bernstein. Von dort könnt ihr sie wieder abrufen.«
Seit es den Wall gab, zerfielen die Steine mit befüllter Magie innerhalb von Stunden. Der Reinheitsgrad bestimmte die Dauer. Doch in vorliegendem Fall benötigten sie vor allem schnell Essenz.
»Gute Idee.«
Annora eilte davon, um Bernsteine zu organisieren.
Immer mehr Betten wurden aus dem Krankenflügel herbeigeschafft und zu Notbetten umfunktioniert. Jason half gemeinsam mit Kyra dabei, die Prioritäten zuzuteilen. Nils stand mit Ataciaru an der Seite und betrachtete das Geschehen mit großen Augen.
Tilda eilte herbei, ihren Essenzstab einsatzbereit ausgestreckt. Da sie kein Sigil besaß, mit Essenz jedoch hantieren konnte, waren die ersten Bernsteine für sie bestimmt.
Überall wurden Heilzauber gesprochen, manche verzweifelt von Magiern ohne Stab, die ihre Freunde irgendwie festhalten, ihren Tod verhindern wollten. Nie zuvor hatte Alex seinen Namen so oft und mit so viel Verzweiflung gehört.
Jen, Alfie, Artus, Tilda und er heilten nur noch die notwendigsten Verletzungen, damit der jeweilige Magier überlebte, dann ging es sofort zum nächsten.
Es war ein endloses Feld aus leblosen Körpern, blutbefleckten Betten, Hoffnung und Verlorenheit. Die Essenzstäbe waren stets als Verlängerung der Sigile auch Stärke und Schutz gewesen. Doch dieser hatte sich dank Merlin gegen sie verkehrt. Wie er es auch immer angestellt haben mochte.
Alex wollte nicht daran denken, dass es auch Magier im Einsatz gegeben hatte, die hilflos dort draußen starben, falls sie sich nicht selbst retten konnten. Illusionen zerfielen, Flugzauber endeten abrupt, unter Wasser zu atmen reichte nicht, wenn der Essenzstab explodierte. Hatte Nemo es überstanden?
Merlin ließ ihnen keinen Moment der Ruhe.
»Ich muss in die Katakomben.« Kyra kam zu Alex.
Wie immer trug der junge Wechselbalg die Gestalt einer blonden Teenagerin mit blauer Jeans und Top.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
»Ich habe einen Weltkrieg erlebt«, gab sie zurück und machte erneut deutlich, dass sie keinesfalls ein hilfloses junges Mädchen war. »Das hier ist … nur ein weiteres Kapitel.«
»Ist unten alles klar?«
»Ein Essenzstab ist in der Nähe der Apparatur explodiert«, erklärte sie. »Wir müssen den Schaden schnell reparieren, bevor der nächste Sprung eingeleitet wird.«
Alex nickte nur. Er wollte gar nicht mehr wissen. Sollten sie die Zuflucht evakuieren müssen, war es sowieso vorbei. Merlin würde sie finden und erledigen.
Irgendwann bemerkte er, dass auch Nikki Verwundete in die Halle brachte. Sie war von ihrer Mission zurückgekehrt. Immer mehr Betten füllten sich, die Schreie wurden lauter.
Längst hatte Alex sich in eine Maschine verwandelt. Stabilisieren, Mut zusprechen, zum nächsten. Die Abfolge war stets dieselbe. Seine Kraft schwand.
Plötzlich erklang das Singen.
Es war Nils, der mit Ataciaru an der Seite stand. Auf seinem kleinen Gesicht lag der Hauch eines Lächelns, vermengt mit Tränenspuren. Er sang, und auf eine nicht zu begreifende Weise nahm er damit die Last von ihnen. Die Klänge vertrieben die Dunkelheit.
Trotzdem war klar, dass sie es nicht schaffen würden. Es waren zu viele Verwundete und es wurden ständig mehr.
»Was ist das?!«, rief Jen.
Alex fuhr herum.
Auf dem Boden erschienen magische Symbole, eins nach dem anderen, bis ein Kreis entstanden war. Flammen loderten empor, Silhouetten zeichneten sich ab.
Die Flammen erloschen.
Und mitten in der Halle standen Chloe, Clara, Teresa, Tomoe, Leonardo und Einstein.
Auf das erste Chaos, aufflammende Schutzsphären und sogar Kraftschläge folgte Leonardos donnernde Stimme. Magisch verstärkt berichtete er, dass Chloe nicht länger auf Merlins Seite stand und die Angriffe eingestellt werden sollten.
Für Alex – der bereits wusste, dass das Ritual gelungen war – war es eine Überraschung, dass die Freundin noch lebte. Sie hatten von den Zinnen beobachtet, wie Merlin sie in die Schlucht warf.
Es war Teresa, die alle weiteren Diskussionen erstickte. Es klirrte, als sie den Koffer abstellte und öffnete. Darin befanden sich Flakons, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt waren.
»Ein Heiltrank«, erklärte sie. »Drei Tropfen in den Mund, nicht mehr. Damit werden die schlimmsten Verletzungen geheilt. Alles weitere muss durch Nachbehandlung erfolgen.«
Sie nahm Tilda beiseite und gab dieser genaue Anweisungen, wie noch mehr von der Heilflüssigkeit hergestellt werden konnte. Wer sich auf den Beinen halten konnte, bekam einen Flakon in die Hand gedrückt. Die Schmerzenslaute nahmen ab, nach zwei weiteren Stunden hatten sie jeden gerettet, der noch zu retten war.
Teresa eilte zwischen den Betten herum, untersuchte jeden und ließ jeweils eine wohl bemessene Dosis Essenz einsickern. Aus irgendeinem Grund benötigte sie dafür keinen Essenzstab.
»Wieso heilst du sie nicht vollständig?«, fragte Alex.
Jen hatte sich zu ihnen gesellt. Sie sah so müde aus, wie er sich fühlte.
»Die Kraft muss für alle reichen«, erklärte sie. »Auch meine ist nicht unbegrenzt. Wir werden jedem Verwundeten täglich ein wenig Heilmagie zukommen lassen, dazu ein paar Tropfen des Tranks. In ein bis zwei Wochen sind sie alle wieder wohlauf.«
»Aber haben wir diese Zeit?«, fragte Annora, die zu ihnen getreten war. »Und warum habe ich plötzlich die Erinnerung an eine Heilmagierin namens Teresa und an eine zweite?«
»Es ist an der Zeit für einen Kriegsrat«, sagte Teresa daraufhin.
»Musst du nicht hier …?«
»Es ist notwendig, dass wir jetzt sprechen«, unterbrach sie Annora. »Leben wurden gerettet, Leben gingen verloren. Doch Merlin ist aktiv und muss aufgehalten werden. Andernfalls geschieht Schreckliches. Vor wenigen Minuten hat er in die Unendlichkeit gegriffen und die Särge geholt. Wir müssen uns beeilen.«
»So fängt es immer an«, sagte Alex trocken.
Jen verzog den Mund und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Und so hört es immer auf«, ergänzte er grinsend.
Annora führte sie zum Konferenzzimmer, wo sie an der runden Tafel Platz nahmen. Teresa, Alex, Jen, Max, Artus, Tomoe, Leonardo, Einstein, Chloe und Clara. Auf dem Weg dahin hatte er die Freundinnen umarmt, was bei Chloe noch ein seltsames Gefühl gewesen war.
Andererseits hatte es auch bei Clara gedauert, bis er damals in ihr nicht mehr die Schattenfrau gesehen hatte.
Leonardo fasste in wenigen Sätzen zusammen, was er gemeinsam mit Clara und später auch mit Grace, Tomoe und Anne erlebt hatte. Dadurch erfuhren sie vom Bruder Merlins, der in einem Splitterreich gefangen