Bettina schluckte.
Was tat ihr leid? dass sie sich jetzt hier begegnet waren, dass sie dabei ertappt worden war, wie sie eine rote Rose auf das Grab eines Verstorbenen gelegt hatte?
Bettina spürte, wie das Blut in ihren Schläfen klopfte. Sie hätte mit allem gerechnet, aber doch nicht damit, dass es zwischen Frau Dr. von Orthen und ihrem Vater eine Verbindung gab.
Sie war nicht in der Lage, etwas zu sagen, auch Frau Dr. von Orthen sagte nichts.
Sofort füllten sich die Augen der neben ihr stehenden Frau mit Tränen.
»Ich habe …, ich habe …, ich habe Hermann geliebt.«
Diese Eröffnung zog Bettina fast den Boden unter den Füßen weg.
Es war ihr überhaupt nicht bewusst, dass sie die Andere mit sich zu der in der Nähe des Grabes stehenden Bank zog, auf die sie sich auch immer setzte, wenn sie Zwiesprache mit ihrem Vater halten wollte.
Sie saßen stumm nebeneinander, bis wieder Bettina es war, die das Wort ergriff.
»Mein Vater …, ich meine, mein Vater und …, Sie … ich verstehe nicht …, ich wusste nicht …«
Sie stammelte herum wie jemand, der nicht in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Aber diese Eröffnung, der Gedanke, dass es im Leben ihres Vaters eine Frau gegeben hatte, verwirrte sie total.
Christina von Orthen atmete tief durch, knetete mit ihren Händen herum.
»Es tut mir wirklich so leid …, ich hätte nicht damit gerechnet, Sie jetzt hier zu treffen …, es war so unnötig …«
»Das glaube ich nicht. Es musste wohl so sein, dass ich hier aufgetaucht bin. Schließlich geht es um meinen Vater, den ich sehr geliebt habe. Bitte, erzählen Sie mir, was da zwischen Ihnen und ihm war. Ich hatte keine Ahnung …«
»Ich weiß.«
Christina von Orthen machte noch eine kleine Pause, versank in Erinnerungen, ehe sie mit leiser Stimme zu sprechen begann: »Hermann und ich lernten uns vor mehr als fünf Jahren auf einem Flug nach Paris kennen. Er wollte weiterfliegen nach Bordeaux und ich mir ein paar Tage Paris ansehen … Hermann erlitt einen Schwächeanfall, und ich versorgte ihn … ich bin Ärztin … In Paris begleitete ich ihn, auf seinen Wunsch hin, ins nächste Krankenhaus, wo er nach einem ambulanten check up wieder entlassen wurde. Er lud mich zum Essen ein …«, sie seufzte, »und so nahm alles seinen Anfang. Wir verstanden uns auf Anhieb gut. Hermann verschob seine Weiterreise. Wir verbrachten zwei Tage in Paris, er zeigte mir, da er sich sehr gut auskannte, alles. Dann fuhr er weiter nach Bordeaux und nach seiner Rückkehr verbrachten wir noch drei Tage in Paris. Vom ersten Augenblick an war eine besondere Magie zwischen uns. Wir konnten es nicht glauben und wir wollten es auch nicht wahrhaben, dass wir in unserem Alter eine solch wunderbare Liebe erleben durften, dieses Verstehen ohne Worte, dieses Fühlen, diesen Gleichklang der Herzen … Ich hatte mich nach dem Tod meines Mannes in die Arbeit vergraben, und Hermann hatte, nachdem er von seiner Frau verlassen worden war, sein Herz sorgsam verschlossen. Und da standen wir nun wie zwei ungläubige Kinder vor der Allmacht der Liebe.«
»Aber, wenn …«
Wieder konnte Bettina nicht aussprechen, was sie dachte, nämlich, dass, wenn ihr Vater und Frau Dr. von Orthen sich so unsterblich ineinander verliebt hatten, nichts daraus geworden war.
»In unserem Alter hat man keine Eile, da genießt man jeden Augenblick der Gemeinsamkeit, genießt die Liebe, die frei ist von Erwartungshaltungen, von Forderungen … ich hatte meinen Beruf, Hermann die Firma. Wir verbrachten Urlaube miteinander, manchmal nur Wochenenden, wir telefonierten täglich miteinander … Wir wussten, dass wir unser Leben miteinander verbringen wollten. Aber es sollte ein Neuanfang werden. Er sollte nicht in mein Leben eintauchen, ich nicht in seines. Wir wollten das Abenteuer des totalen Neuanfanges genießen, frei von Altlasten … Meine Praxis aufzugeben war kein Problem für mich, aber Hermann konnte den Absprung nicht finden. Nicht weil er es nicht wollte, sondern weil seine Söhne sich nicht als würdige Nachfolger für sein Lebenswerk erwiesen. Ihr Bruder Jörg war immer voller Pläne, die er kaum realisierte, und Ihr Bruder Frieder machte Ihrem Vater besonders viele Sorgen. Er konnte sich nicht in das Vorhandene einfügen, sondern war immer voller neuer Ideen, die nicht in das Konzept passten. Er wollte immer alles, immer mehr, ohne etwas dafür zu tun. Es gelang Ihrem Vater nicht, ihn zu ernsthafter Arbeit zu bewegen. Und so hoffte er von Jahr zu Jahr, und so verging die Zeit …, bis Hermann schließlich resignierte und loslassen wollte, egal, was immer sich auch daraus entwickeln würde. Er wollte seinen Söhnen die Firmen überlassen, Ihrer Schwester die Villa mit allem, was dazu gehörte und Ihnen den Fahrenbach-Hof, und es sollte endlich für uns ein gemeinsames Leben geben. Wir wollten reisen und uns dann überlegen, wo wir sesshaft werden wollten. Wir hatten unseren Hochzeitstermin schon festgelegt …«, ihre Stimme brach ab. »Es hat …, es hat nicht sollen sein.«
Bettina war zutiefst erschüttert. Aber sie war auch treuherzig. Wenn sie nicht zufällig zum Friedhof gekommen wäre, hätte sie es niemals erfahren.
Ihr Vater und Frau Dr. von Orthen in tiefster Liebe verbunden, die sogar durch eine Hochzeit gekrönt werden sollte.
Nach einer langen Zeit des Schweigens ergriff Bettina das Wort.
»Warum hat Papa seine Liebe geheim gehalten? Warum hat er nicht darüber geredet? Nicht einmal mit mir, wir waren uns doch stark verbunden? Ich habe meinen Vater geliebt und hätte mich doch mit ihm gefreut.«
»Ich weiß, Hermann wusste es auch …, aber Ihre Geschwister, die hätten Angst bekommen, die hätten mich als Erbschleicherin gesehen … Das alles wollte Hermann vermeiden. Er hätte sich erst offenbart nach der Verteilung seines Vermögens … Es ist ja schließlich auch so gekommen, wie er es gedacht hat und wie es von Ihren Geschwistern auch erwartet worden war …«
Wieder Schweigen.
Wieder war Bettina es, die das Wort ergriff.
»Frau Dr. von Orthen, wenn wir uns hier nicht zufällig begegnet wären, hätten Sie es uns …, mir …, nie gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum auch? Nachdem ich erfahren hatte, dass Ihr Vater umgebettet worden war, wollte ich nur noch einmal Abschied von ihm nehmen und auch die Plätze kennenlernen, die ich aus seinen Erzählungen kannte. dass Sie auf dem Hof Ferienappartements vermieten, war für mich einesteils ein Glückstreffer, andererseits eine große emotionale Belastung.«
»Deswegen waren Sie oft so traurig, so geistesabwesend.«
»Es war manchmal unerträglich. Da Hermann mir besonders den Hof, Fahrenbach, den See, das Bootshaus in den glühendsten Farben geschildert hatte, war er so präsent, dass es körperlich weh tat. Ich hatte zeitweilig das Gefühl, er müsse irgendwie um die Ecke biegen, mich in die Arme nehmen und mir sagen, dass er überhaupt nicht tot sei, dass alles nur ein böser Traum von mir gewesen war … Aber es war leider kein Traum … Etwas besser ging es, nachdem sie mir erlaubt hatten, mich auf dem Seegrundstück und im Bootshaus aufhalten zu dürfen. Dort konnte ich so richtig Abschied von ihm nehmen … Danke nochmals dafür …, und bitte entschuldigen Sie … wäre ich nicht so sentimental gewesen, noch einmal zurückzukommen, obschon ich bereits auf der Autobahn war, wäre mein kleines Geheimnis gewahrt geblieben.«
»Ich bin froh, dass es so gekommen ist, und ich bin, obwohl ich es erst einmal verarbeiten muss, glücklich, dass Papa noch eine Liebe gefunden hat …, und ich bin froh, dass Sie es sind … Sie waren mir von Anfang an sympathisch.«
Sie lächelte.
»Danke … Sie haben mir auch gefallen, und Sie sind genau so, wie Hermann Sie geschildert hat. Er mochte all seine Kinder, wenngleich er sich ständig ihretwegen Sorgen machte. Aber Sie, Bettina – ich darf Sie doch so nennen? – Sie waren das Kind seines Herzens.«
Bettina konnte nicht anders, sie brach in Tränen aus und merkte überhaupt nicht, wie sie Schutz suchte an Christina von Orthens Schulter, die ihr beruhigend