Am Ende der Stunde, als alle Schüler ihre Arbeitsblätter abgegeben hatten und sich der Physiksaal leerte, erbat er sich das Blatt, auf dem sie so eifrig gerechnet hatte.
»Deine Leistungen sind wirklich überragend, Leonie. Weißt du schon, was du einmal werden möchtest?«, fragte er das Mädchen, als sie beinahe allein im Zimmer waren.
Sie konnte ihm schlecht von ihrem Traum erzählen, dass sie ein eigenes Haus und einen Mann und zwei Kinder wollte.
»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, gab sie zur Auskunft. Zu dem Mann konnte man freundlich sein, ohne dass er gleich etwas wollte oder sie zusammenstauchte. Mit dem konnte man reden.
Spontan berichtete sie ihm von ihrer Situation. Sie erzählte so weit wie möglich alles, was sich zugetragen hatte. Dass der Junge sie gestern Abend vergewaltigt hatte, konnte sie nicht erzählen, aber dass sie aus ihrer Pflegefamilie herausgerissen worden war und man sie zwingen wollte, die Schule zu verlassen, das erzählte sie so, wie es sich zugetragen hatte.
»Mein Gott, Kind!«, meinte er entsetzt. Er wusste ja, dass ihre Verhältnisse schwierig waren, aber er hatte keine Ahnung, dass sie so schwierig waren. Er konnte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, dass es solche Verhältnisse überhaupt gab.
Mit einem Mal verstand er, warum die Schule und er und die Fächer, die er unterrichtete, so wichtig für das Mädchen waren. Er und die Schule boten ihr den einzigen Ankerpunkt im Leben. Er war fast verzweifelt vor Mitgefühl mit dem heimatlosen Kind. Was musste dieses Mädchen für Leid erfahren haben.
»Komm bitte in der zweiten großen Pause zu mir ans Lehrerzimmer, ich muss erst einmal überlegen, was wir tun können.«
Er überlegte ein paar Minuten, während denen er das Kind anschaute. Wie mager sie war, wie melancholisch und getrieben der Blick.
»Gibt man dir ein Pausenbrot mit dort, wo du wohnst?«, fragte er. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, er fragte so vorsichtig, wie es ging.
Erwartungsgemäß verneinte sie.
»Im Schulkiosk bieten sie so extrem leckere Schinkenbrötchen an, würdest du mir bitte eines holen und mir hier aufs Pult legen? Ich nehme es dann später mit. Bitte kauf dir auch ein oder besser zwei Brötchen. Hier hast du zehn Euro, das Wechselgeld behältst du bitte. In der zweiten großen Pause, okay?«
Leonie schaute den Pädagogen misstrauisch an, als er ihr den Geldschein gab. Aber sie konnte beruhigt sein, er machte keine Anstalten, mehr von ihr zu verlangen, als das Brötchen zu holen.
Die beiden Brötchen schmeckten wunderbar auf den nüchternen Magen. Gierig schlang sie sie hinunter.
Francis traf sie an die Mauer der Sporthalle gelehnt.
»Heh, na? Wie war die Arbeit?«, wurde sie gefragt.
Francis übergab ihr ein Päckchen.
»Ist von meiner Mam, ich soll es dir geben, sie meint, du könntest es gebrauchen. Keine Ahnung, was drin ist.«
Leonie packte aus. Der kleine Karton enthielt eine nigelnagelneue Leggings, eine Monatskarte für den Bus und einen Zwanzigeuroschein. Leonie schaute sprachlos auf die Gaben. Ihr hatte noch nie jemand etwas geschenkt, noch nie. Sie war verlegen wie nur was, sie wusste nicht, welche Reaktion von ihr erwartet wurde. Sie hatte keine Ahnung, ob sie diese Geschenke annehmen sollte oder nicht.
Dabei traf jeder einzelne Gegenstand genau ins Schwarze, haargenau das, was sie jetzt brauchte. Die zerrissene Leggings war das, was sie für die Provokation in der ehemaligen Pflegefamilie brauchen konnte, eine andere hatte sie nicht. Hier jetzt im Kampf um die richtige Schule war ihr ein seriöserer Auftritt wesentlich lieber. Dann die Busfahrkarte. Damit brauchte sie keine Angst mehr zu haben, beim Schwarzfahren erwischt zu werden, denn hiermit hatte sie das Recht, einen ganzen Monat lang mit dem Bus zu fahren. Es war ein Geschenk des Himmels. Die zwanzig Euro zusammen mit dem Wechselgeld des Physiklehrers waren ein Trumpf in ihrer Hand, der ihr deutlich mehr Bewegungsfreiheit und Unabhängigkeit gab. Sie fühlte sich mit einem Mal stark, mit der richtigen Unterstützung würde sie das schaffen, was sie erreichen wollte.
Sie bedankte sich bei Francis, die schien tatsächlich nicht gewusst zu haben, was ihre Mutter in das Päckchen gepackt hatte. Für sie war es so selbstverständlich, etwas geschenkt zu bekommen, dass sie sich die Freude Leonies nicht so recht erklären konnte. Genügend Geld zu haben, war ihr ebenfalls selbstverständlich, trotzdem freute sie sich mit Leonie. Das ging auch nicht anders, weil ihr die neue Freundin um den Hals fiel und sich dermaßen freute, dass man unbedingt einstimmen musste.
Leonies Gesichtsausdruck veränderte sich vollständig, war sie normalerweise mürrisch bis aggressiv, wirkte sie ganz anders mit entspanntem Gesicht. Man sah jetzt erst ihre Jugend, das gleichmäßige Gesicht, ihren wunderschönen Mund, die beiden Reihen perlweißer Zähne. Sie sah umwerfend aus mit dem strahlenden Lächeln.
Leonie sah sich außerstande, das Lächeln abzustellen, als sie es einmal zugelassen hatte.
»Sag deiner Mam tausend Dank, nein, sag ihr eine Million Dank, nein, sag ihr einfach ganz, ganz lieben Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es ist voll krass von ihr, so an mich zu denken, ich kann es noch nicht glauben. Ich weiß echt nicht, was ich sagen soll, echt. Ich hab keine Ahnung, was ich jemals wieder sagen soll.«
Francis griente.
»Dafür, dass du nichts zu sagen weißt, quasselst du aber ganz schön.«
Leonie stutzte und umarmte die Freundin glücklich lachend. Francis konnte sich nicht erinnern, Leonie jemals lachen gehört zu haben. Es war ein glucksendes Lachen, eines, das ansteckend war, ein nettes und freundliches Lachen. Sie freute sich darüber, dass die Freundin so glücklich war und wünschte sich, sie noch öfter so glücklich zu sehen.
Nach der vierten Stunde wartete Leonie die gesamte große Pause vor dem Lehrerzimmer auf den Physik- und Mathelehrer. Er kam nicht.
Als es erneut zum Unterricht läutete, ging sie ins Sekretariat und fragte:
»Ist der Herr Bauer zu sprechen? Er wollte mir etwas sagen.«
»Ach, du schon wieder«, begrüßte sie die neugierige Sekretärin abschätzig. »Herr Bauer ist schon weg, er hatte heute nur vier Stunden. Wieso? Was wollte er dir sagen?«
Leonie fühlte die Enttäuschung im Magen, ein dicker Kloß wurde ihr hineingestoßen und nahm ihr beinahe den Atem. Sie hatte so große Hoffnungen auf den Lehrer gesetzt, er hatte es ihr versprochen. So waren die Erwachsenen halt, sie fühlten sich an ihr Wort nicht gebunden, zumindest dann nicht, wenn sie es Kindern oder Jugendlichen gegeben hatten.
Seine Reaktion war ganz normal für einen Erwachsenen, sie war ihm nicht wichtig genug. Sie fühlte sich in ihrer negativen Weltsicht bestätigt.
Der erste Freund
Francis hatte nach der letzten Schulstunde keine Zeit, so blieb Leonie allein. Sie wollte nicht nach Hause, dort wartete der bekloppte Sozialarbeiter auf sie, der gewiss eine Menge laute Worte zu ihr sagen würde. Außerdem wartete da auch noch der Dreckstyp auf sie, der sie gestern vergewaltigt hatte. Mordgedanken stiegen in ihr auf. Sie hatte nicht die Absicht, dem Idioten ständig zur Verfügung zu stehen. Es gab die Hoffnung, dass sich die beiden Mädels ebenfalls daran beteiligen würden, dem Jungen den Hormonstau abzubauen, ansonsten sah sie schwarz für sich. Sie würde etwas ändern, das stand fest, nur was?
Sie setzte sich in die Eisdiele, sie verfügte ja jetzt über Geld. Über den kostbaren Eisbecher gebeugt, hörte sie eine Stimme:
»Bitte erlauben Sie mir, ein Kompliment auszusprechen. Ich sah selten eine junge Frau mit so reizendem Gesicht. Wundervoll, sehr eindrucksvoll, wunderschön!«
Leonie