Nur mit Mühe konnte er sich wieder auf die Beine kämpfen. Dabei hielt ich seine Hand. Sie wirkte nicht wie die eines Soldaten. Die Finger und Innenflächen waren nicht von Schwielen überzogen, sondern unglaublich weich, als würde man mit den Fingern über eine Wasseroberfläche streichen.
»Mir ist kalt, kannst du mir meinen Mantel geben?«, bat er mich und deutete auf sein Kleidungsstück, das im Kampf verlorengegangen war. Ächzend zog er die Schutzweste aus und ließ sie auf den Boden fallen.
»Wie kann dir jetzt kalt sein«, amüsierte ich mich etwas zu überzogen. »Wir haben immer noch fünfundzwanzig Grad.«
Er zuckte mit den Schultern, presste die Augen zusammen und zog Luft in seine Lungen, während er sich den dicken Wintermantel überwarf.
»Keine Ahnung. Mir ist halt kalt.«
Ich legte die Stirn in Falten und meine Hand auf seine Brust. Unter dem eng anliegenden Pullover konnte ich spüren, wie seine Brustmuskeln spielten, dazu die kleine Erhebung der Ritterlilie. Maddox zuckte zusammen. Fragend schnalzte ich mit der Zunge, wartete eine Sekunde, bis er wieder zu mir gerückt war, befühlte anschließend erneut seine Brust.
»Hast dich doch mehr verletzt, als du zugeben willst, oder?«
Er winkte ab, wie Männer es in solchen Situationen taten. Falscher Stolz, zu großes Ego.
»Ist nicht schlimm.«
Auch wenn die Situation alles andere als vorteilhaft war, konnte ich nur grinsen, während ich seinen Körper abtastete. Ich gab mir größte Mühe, zärtlich zu sein und trotzdem einen professionellen Eindruck zu hinterlassen.
»Ich glaube, da sind ein paar Rippen gebrochen. Aber unsere Heilerinnen sind gut. Wir sollten schleunigst zum Zirkel.«
***
Ich ertappte mich dabei, wie ich mein Baby mit einer Wucht über die Straßen peitschte, die mich an einen Passatwind erinnerte. Hochtourig dröhnte der Motor des SLK. Im Augenwinkel konnte ich Maddox erkennen, der sich mit ausdrucklosem Gesicht seinen Bauch hielt, dabei mit den Kiefermuskeln spielte. Er musste weit mehr Schmerzen haben, als er zugab.
Endlich im Zirkel angekommen, arbeitete die medizinische Abteilung mit kühler Routine. Jeder Handgriff saß, als er zu den Heilerinnen gebracht wurde. Ihres Zeichens auch Hexen, jedoch hatten sie sich ausschließlich der weißen Magie verschrieben. Ich blickte ihm noch lange hinterher, während er auf einer Trage in den Aufzug geschoben wurde.
Ich ließ mir einige Sekunden zum Durchschnaufen. Als mein Verstand wieder zu arbeiten begann, erstattete ich Madame de la Crox Bericht. Ihr Büro lag im obersten Stockwerk, war penibel aufgeräumt und erinnerte mich eher an einen sterilen Raum, als an ein gemütliches Refugium, in dem sie den größten Teil ihrer Zeit verbrachte.
»Der Großmagier konnte flüchten?«, wollte sie schließlich mit schneidender Stimme wissen, als ich meinen Bericht abschloss.
»Ja, Madame.«
Mit überkreuzten Beinen saß sie im Ledersessel, vor ihr thronte ein ausladender Glasschreibtisch. Die Fenster waren abgedunkelt.
Das geballte Licht der Punktstrahler erhellte jede Ecke des Büros. Sie atmete tief.
»Ein Großmagier im Ostzirkel, das gefällt mir nicht.«
Ich hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt, stand mitten im Raum.
»Madame? Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
Sie nickte beiläufig, den Blick hinaus in die dunkle New Yorker Nacht gerichtet. Jagende Wolken zogen über den Himmel hinweg, als würden sie ein drohendes Unheil ankündigen.
»Du darfst mir jede Frage stellen, Isabelle.«
Wir waren allein, deshalb sprach ich sie mit ihrem Vornamen an, wie ich es früher getan hatte.
»Marie, ich habe aus sicherer Quelle erfahren, dass Nikolai nicht von russischen Hexen eingeschläfert wurde.« Ich versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. Doch als sich ihr Sessel zu mir drehte und sie mich mit ihrem Blick fixierte, begann sie zu flattern. »Um genau zu sein, war es nur eine Hexe, die ihn damals festnahm. Eine amerikanische Hexe. Dies ist auch der Grund, warum Nikolai seinen Rachefeldzug hier beginnt.«
Hinter ihren Augen wütete es, das konnte ich erkennen. Sie senkte den Blick und sagte: »Ich hatte mich bereits gefragt, wie lange ich es vor dir verbergen kann, Isabelle.« Sie lächelte zufrieden, fast stolz. »Ich wusste schon, warum ich dich zum Sicherheitsoffizier des gesamten Zirkels gemacht habe. Deine Fähigkeiten stechen heraus und deine Quellen haben wie immer recht.« Sie ließ die Worte einige Sekunden wirken. »Wir übergaben ihn damals nur den russischen Hexen, weil die Verbrechen auf ihrem Hoheitsgebiet stattfanden. Dabei war es eine junge Hexe des Ostzirkels der Vereinigten Staaten, die ihm mit ihrer Weiblichkeit schließlich Einhalt gebieten konnte. Schließlich sind die Mütter der vier Brüder Menschen, und Menschen haben nun mal Gefühle. Sie muss einen Moment der Schwäche Nikolais ausgenutzt haben.«
Madame de la Crox atmete tief, als müsste sie sich überwinden, weiterzusprechen. In Gedanken versunken, stützte sie ihr Kinn mit zwei Fingern ab.
»Vielleicht hast du mehr mit dieser Hexe gemein, als ich mir eingestehen will. Ich denke oft an den Tag zurück, als wir dich fanden und in den Zirkel aufnahmen.«
Etwas verwundert lachte ich auf, konnte mich selbst nur vage an den Tag erinnern. Ich war noch klein, fünf Jahre alt, als Marie mich höchstpersönlich im Heim abgeholt hatte. Alles vor dieser Zeit war grau, nicht mehr Teil meiner Erinnerung oder vergraben unter dicken Staubschichten im hintersten Winkel meiner Seele. Seit dieser Zeit lebte ich im Wohnbereich des Zirkels, ging auf eine normale Schule, machte schließlich meinen Abschluss. Alles unter der Obhut der Hexen, allen voran meiner Lehrerin, Mentorin, Ziehmutter. Es war nur die logische Konsequenz, dass ich noch in der High School, einen Tag nach meinen achtzehnten Geburtstag, den ewigen Vertrag mit meinem Blut unterschrieb, der mich für immer an den Zirkel binden sollte. Dies hier war mein Zuhause und würde es immer bleiben. Ein anderes hatte ich nicht und wollte es auch nicht haben.
»Normalerweise lassen wir unsere Hexen erst ihre schulische Ausbildung durchlaufen, bis wir sie aufnehmen«, referierte de la Crox weiter. »Doch du warst eine Ausnahme, Isabelle.«
Ein kalter Schauer lief meinen Rücken herab. Dann schüttelte sie ihren Kopf, als wollte sie sich dieses Gedankens entledigen. Für ein paar Sekunden war es still. Wir beide brauchten diese Zeit, um uns wieder an die Realität zu gewöhnen.
»Trotzdem möchte ich dich bitten, deinen Hinweisen nachzugehen. Wir haben Dutzende vermeintliche Aufenthaltsorte von Nikolai ausgemacht, dazu noch mal mindestens genauso viele von häufigen Ansammlungspunkten der Halbwesen. Leider tauchen von überall her Dämonen in der Stadt auf. Es ist wie ein verdammter Tummelplatz, ein riesiges Happening.«
Zum Beweis vollführte sie eine Handbewegung, woraufhin die großen Monitore an der Wand ansprangen. Der Plan zeigte eine digitalisierte Form der amerikanischen Ostküste. Im ganzen Gebiet leuchteten rote Punkte auf, dazwischen immer mal wieder blaue für die Einheiten der Hexen und Reaper.
»Ich würde dir gern Personal zur Unterstützung bereitstellen, aber leider ist mir das nicht möglich. In einer Stunde müssten die Heilerinnen ihren Dienst versehen haben. Du hast ja bereits bemerkt, dass der junge Maddox ein besonderer Reaper ist. Seine magischen Fähigkeiten sind sehr ausgeprägt.« Charmant zwinkerte sie mir zu. »Natürlich für einen Reaper.«
Ein Scherz unter Hexen. Es tat so unendlich gut, in ihrer Nähe zu sein. Ich hing an ihren Lippen, lauschte ruhig ihren Worten, wie damals, als sie mir die alten Geschichten des Zirkels erzählte.
»Maddox wird dir bei der Auskundschaftung deiner Vermutung assistieren.«
Einen Moment lang ruhte ihr Blick auf mir, als wollte sie etwas hinzufügen. Ein merkwürdiges Gefühl kroch in mir hoch, das ich nicht deuten konnte.
»Pass auf dich auf, mein Kind.«
Etwas Bittendes