Das Firmenarchiv der Pretorius Filter- und Anlagenbau GmbH & Co. KG hatte lediglich einen wohlklingenden Namen. In Wirklichkeit war es ein staubiges Kabuff, keine zehn Quadratmeter groß. Den Schlüssel für die Kammer verwaltete eine unattraktive, lustlose Sekretärin. Dies ist übrigens ein sehr doppeldeutiger Hinweis, denn wie ich später erfuhr, gab es für diesen Job in der Firmenvergangenheit durchaus attraktive, der Lust sehr zugetane Damen. Davon später mehr. Mein erster Besuch im Archiv war eher die Vortäuschung aktiver Recherchen. Ich wollte Dennis beruhigen und konnte deshalb mein Glück kaum fassen, als die Beleuchtung streikte. Die ausgeleierte Neonröhre schaffte nur noch ein unregelmäßiges Aufflackern. Um nicht mit leeren Händen zu gehen, schnappte ich mir wahllos einen Ordner, gab den Schlüssel wieder ab und verschwand.
Umso anstrengender wurden die Treffen mit meinem Sportskameraden Pretorius. Ich quetschte ihn aus über Themen, auf die ich scharf war, während er immer wieder monologisierte und Sachen zum Besten gab, die mich nicht im Geringsten interessierten. Aber ich erschloss mir neue, unerwartete Informationsquellen, die ergiebig sprudelten. Heinrich von Zegenhagen, Stammgast schon zu Zeiten, als mein Vater noch hinterm Tresen stand, erschien eines Tages an meiner Theke. Er hatte mich mit Dennis Pretorius im Café Fritzenkötter gesehen und wollte nun wissen, was ich mit diesem Taugenichts zu tun hätte. Kaum erwähnte ich den Namen des Jungen Fabrikanten, sprudelte der Mann schon los. „Manfred Pretorius? Ach was, Werther haben wir den genannt. Der konnte zu jeder Situation ein Goethe-Zitat beisteuern. Alles auswendig! Und jede Menge Gedichte hatte der auf der Pfanne. Glaubt man nicht. So ’n junger Kerl. Einer von uns und dennoch irgendwie anders. Sensibler, würde ich heute sagen. Na, und dann ist der so abgestürzt. Hat nicht mal Abitur gemacht. Jedenfalls nicht mit uns. Schade, aber er soll sich ja gefangen haben, später dann. Wir hatten nie mehr Kontakt zu ihm. Er kam auch nicht zu Klassentreffen. Es hieß ja, er sei an Liebeskummer fast krepiert. Machste mir noch ein Herforder?“
Montag früh erscheint der zu einem Umschulungskurs entsandte Pförtner Lendruscheit überraschend in der Firma. Grußlos und mit hochrotem Kopf läuft er an allen vorbei. Frau Zirpins sagt: „Da können Sie nicht rein!“ Doch, er kann. Er reißt die von innen mit Leder überzogene, schaumstoffgepolsterte Tür des Alten Fabrikanten auf und läuft auf dessen Schreibtisch zu. Mit geballten Fäusten presst er es hervor: „Ihr Sohn, das Schwein, hat meine Tochter geschwängert! Er hat aus ihr eine Hure gemacht!“ Mehr zu sagen gelingt ihm nicht. Sein am Sonntag eingeübter Text ist weg. Aber es ist auch nicht mehr nötig. Wilhelm Pretorius erfasst die Situation blitzschnell. Er steht auf und drückt auf die innere Deeskalationstaste, die er für Momente wie diesen zur Verfügung hat. „Mensch, Lendruscheit, das klären wir doch! Das klären wir wie Männer, was? Wir haben doch schon ganz andere Sachen durchgestanden, wie? Wir sind beide nicht vorm Iwan weggerannt. Und nun rennen wir auch nicht weg. Sie haben schon Ihr Bein verloren, da verlieren wir doch jetzt nicht auch noch den Kopf, was? Kommen Se, erst mal einen Weinbrand. Ach, was sag’ ich, einen Cognac natürlich. Und nicht irgendeinen, den besten, versteht sich. Komm, setzen Sie sich. Mensch, Lendruscheit, wir zwei, wäre doch gelacht, wenn wir da keinen Dreh reinkriegen. Kleinen Moment – Frau Zirpins, ich bin für niemanden zu sprechen, klar? Selbst wenn der Adenauer anruft, nicht durchstellen, keine Störungen, klar? So, Lendruscheit, nun besprechen wir das mal in Ruhe. Hier, trinken Sie. Prost! Auf uns!“
Zwei Männer mit völlig verschiedenen Ausgangs- lagen, aber einem gemeinsamen Problem. Der Alte Fabrikant findet es unstandesgemäß, seinen Sohn in den Fängen der Tochter eines Pförtners und einer Putzfrau zu wissen, dazu auch noch aus dem Osten. Der Pförtner glaubt, sich schämen zu müssen. Die Schmach im Angesicht der kirchlichen Instanz und die erwartete Häme der Gesellschaft lassen ihn verzweifeln. Und was soll die Verwandtschaft denken? Die Männer finden zusammen, schmieden einen Plan, der beiden Ausweg und Perspektive verspricht.
Als Alfons Lendruscheit das Büro von Wilhelm Pretorius verlässt, hat er nicht nur einen Scheck über zehntausend D-Mark in der Jackentasche, sondern er ist Teil einer Verschwörung, bei der er das Gefühl hat, sie mit entwickelt zu haben. Romeo und Julia sind ab jetzt nur noch Marionetten.
Manfred kommt erst am späten Abend von der Klassenfahrt zurück. Der Bus hat eine Panne, und an der Grenze nerven die Vopos mit stoischem Kontrollwahn. Von seinem Zimmer aus sieht er bei den Lendruscheits kein Licht mehr. Trotzdem rennt er noch einmal in den Garten und checkt die Lage von dort aus. Das Ergebnis bleibt gleich. Marlene schläft. Wie kann sie ruhig schlafen, wenn ihr Liebhaber vor ihrem Fenster hin und her schleicht?
Am nächsten Morgen ist sein erster Weg wieder zum Rhododendronbusch. Von hier aus sieht er nur gardinenverhangene Fenster. Ausgerechnet heute, an einem Samstag, ist schulfrei. Mittags radelt Manfred zu Emmy. Ihre Eltern sind liberal, da traut er sich zu klingeln. Emmys Großmutter öffnet und sagt: „Die sind alle am Dümmer.“ Verflucht, was wollen die zu dieser Jahreszeit dort?! Die Wohnung der Lendruscheits bleibt das ganze Wochenende über dunkel. Die Gardinen bewegen sich nicht. Auch die Messe am Sonntag wird ohne Marlene und ihre Eltern gefeiert. Manfred ist kurz vorm Durchdrehen.
Montag schwänzt er die Schule und steht schon vor der ersten Pause an der kleinen Mauer am Schulhof des Liebfrauen-Gymnasiums. Endlich klingelt es. Mehrere hundert Mädchen kommen teils kichernd, untergehakt, hüpfend, in Gruppen oder alleine heraus. Aber weit und breit kein kleiner, dunkelblonder Lockenkopf mit rotem Anorak. Endlich entdeckt Manfred Emmy. Es klingelt schon wieder und es bleibt keine Zeit für ausführliche Informationen. Nur so viel: Marlene ist schon seit Tagen nicht mehr zur Schule gekommen. Manfred wird fast verrückt. Er rast zurück und klingelt bei Lendruscheits. Laut und lange. Aber es regt sich nichts. Vom Herzklopfen ist es ein kurzer Weg zum Herzrasen. Manfred stürmt ins Haus, reißt die Tür zum Zimmer seiner Mutter auf und schreit: „Was ist mit Lendruscheits?“ Frau Pretorius ist noch klar bei Verstand. Sie legt die
Tageszeitung auf ihre Knie und schließt den Morgenrock. „Das wüsste ich auch gerne. Die gute Frau hat mir den Hausschlüssel gebracht und nur gesagt: ‚Ich gehe!‘ Das muss man sich mal vorstellen. Ist das eine Art zu kündigen? Jahrelang habe ich ihr die Treue gehalten, sie gut behandelt und all ihre Oberflächlichkeit ertragen. Und was ist der Dank? Sie lässt mich im Stich, sagt kein Wort der Entschuldigung und zieht mit ihren verheulten Augen davon. Es rächt sich eben, wenn man die einfachen Leute zu nah’ an sich heranlässt. Impertinent und undankbar!“
Manfred knallt die Tür zu und rennt in sein Zimmer. Ein Weinkrampf im Kissen. Er kann es nicht glauben. Dann die Eingebung. Der Briefkasten! Manfred braucht keine zehn Sekunden für drei Etagen. Keine Post. Kein Zettel. Seine Finger suchen im Inneren nach heimlichen Verstecken. Oder liegt vielleicht eine Nachricht unter einem Stein hinter dem Rhododendron? Manfred sucht alles ab. Immer wieder. Eine erfolglose Schnitzeljagd. Auf einmal kommt ihm ein furchtbarer Verdacht. Er wird ruhig und grimmig. Wieder setzt er sich auf das Rad seiner Mutter und strampelt zur Firma. Er kennt den Leiter der Lohnbuchhaltung gefühlt seit seiner Geburt. Ein freundlicher Mann, immer erfreut, wenn er den jungen Pretorius zu Gesicht bekommt. „Herr Behringer, was ist mit unserem Pförtner, dem Herrn Lendruscheit?“ „Ach Junge, der Lendruscheit, ja, den haben wir abgemeldet. Der hat uns verlassen. Musste alles zack, zack gehen. Der Mann kam mir vor wie auf der Flucht. Aber dein Vater wollte, dass wir uns beeilen. Kennst du den Lendruscheit denn überhaupt? Ach ja, der wohnt ja bei euch, stimmt’s?“
Grußlos