Die Niederung entlang des Talbachs hat einen befestigten Weg zu einer Seite. Und einen verschlungenen Trampelpfad auf der anderen. Da stehen viele Sträucher. Wenn Manfred zu schnell kommt und das Taschentuch nicht rechtzeitig am Platz ist, hilft der Talbach mit seinem klaren Wasser. Das Gebüsch hält dicht und wird ebenso wie der Rhododendron ein Freund der Liebenden. Knapp ein halbes Jahr geht das so. Die Mütter ahnen was, aber die Väter bleiben blind. Frau Lendruscheit findet nicht die richtigen Worte, und Frau Pretorius hat Likör.
„Wirst du mich einmal heiraten?“ Marlene beobachtet die Augen von Manfred mit aller möglichen Konzentration. Natürlich lächelnd. Manfred schlüpft kurz in seine James-Dean-Rolle zurück und sagt cool: „Wen sonst?“ Beide überraschen sich damit, lachen und finden alles richtig so, wie es ist. Vorboten für das aufziehende Drama werden in Manfreds Zimmer sichtbar. Auf einmal ist die Müllhalde unter seinem Bett verschwunden. Das Schreibtischholz bekommt wieder Luft zu atmen, weil Herumfliegendes zu Stapeln verdichtet wird. Manfred schleppt den Siemens-Staubsauger aus dem Keller und lässt ihn nach dem Gebrauch vor der Tür stehen, wo ihn Frau Lendruscheit Tage später findet. Er grübelt, ob er den Goethe-Gedichtband einsortieren oder an oberster Stelle auf den Bücherberg legen soll. Nein, er will punkten. Und er will sich outen. Er ist nun mal Goethe-Fan, kennt einige Dutzend Gedichte des großen Meisters auswendig und erträgt seit Jahren seinen Spitznamen. Sie nennen ihn Werther. Jegliches Aufbegehren dagegen ist zwecklos. Natürlich wäre er lieber Dean gewesen. Doch Manfred Pretorius bleibt Werther. Der Deutschpauker verschlimmert die Situation noch, als er sagt: „Sei doch stolz darauf!“ Auch Marlene hat von Werther Wind bekommen. In ihrer Schule ist der Name ein Begriff, weil sich dahinter ein begehrenswerter, etwas geheimnisvoller Junge verbirgt. Eine stattliche Erscheinung, immer in braunem Wildleder, mit Haartolle über der Stirn und Röhrenjeans mit Kupfernieten. Leider kommt dieser starke Halbstarke nicht mit zum Tanzunterricht. Die Parallelklasse bedauert das ausnahmslos. Dann hört Manfred Pretorius seinen Spitznamen zum ersten Mal gerne: „Na du mein kleiner Werther?!“, sagt Marlene und schmiegt sich an ihn.
Aus allen Ecken des Schulhofes kommen Elvis-Fotos. Marlene steht auf Presley, der in ihrem Elternhaus absolutes Auftrittsverbot hat. Manfred zahlt gute Preise für besonders sauber und knickfrei ausgetrennte Bravo- Starschnitte. Aber auch kleine Bilder des Idols werden noch mit einigen Groschen honoriert. Zuhause wandelt sich das Zimmer im dritten Stock in eine Devotionalien-Sammlung. Die Wände sind am Ende tapetenfrei. Überall Elvis. Ein Fan wird hier auf die Knie gehen und in Freudentränen ausbrechen. Emotion pur. Und genau darauf kommt es an. Manfred Pretorius erwartet nämlich einen VIP-Gast in seinem Zimmer, für den kein Aufwand zu groß ist. Der Zehnplattenwechsler hat alles, was Hitze bringt. Von Heartbreak Hotel bis Hound Dog.
An einem Freitag im Oktober 1959 ist der große Tag. Betriebsfest bei Pretorius Filter- und Anlagenbau. Alle Mitarbeiter mit Begleitung werden sich von Wilhelm Pretorius – dem Alten Fabrikanten – eine ermüdende Rede anhören, um dann Hühnerbrühe mit Einlage, Schnitzel, Kroketten, Mischgemüse und Vanillepudding mit Schlagsahne reinzuschieben. Allergrößte Portionen, dafür ist das Gasthaus am Mühlenteich bekannt. Erst danach gehen die Hände der Männer zum stramm gebundenen Schlips, um den Knoten etwas zu lockern. Die Zunge löst ein Jacobi-Weinbrand, 4 cl, für jeden! Die Damen bleiben beim Zeltinger Himmelreich von der Mittelmosel, die Männer wechseln zu Dortmunder Union Export-Bier, zur besseren Verträglichkeit begleitet von Schlichtes Steinhäger. Gegen 23 Uhr spendiert der Alte Fabrikant eine Runde seiner besten Zigarren und der Saal wird in eine hustenauslösende, blaue Wolke getaucht. Die Fabrikanten-Gattin bleibt beim Weinbrand, den sie mit ein paar Eckes Edelkirsch weich spült. Der Junior Pretorius ist heute leider nicht dabei, ihn plagt eine üble Magenverstimmung – vielleicht kommt er später noch. (Klar, und wie er kommt!) Eine Dreimannkapelle – es ist die beliebte Combo Rudis Schuhriegels – spielt, was das Tanzbein begehrt. Gegen 23.30 Uhr kommt es zu einer denkwürdigen, nur aus der Vogelperspektive bemerkbaren Doppelbegegnung der Familien Lendruscheit und Pretorius. Während in Manfreds Zimmer bereits alle Hüllen gefallen sind und der Körperkontakt kaum enger sein könnte, schlurft der Alte Fabrikant an die Theke, rempelt seinen Pförtner an, klopft ihm jovial auf die Schulter und trötet: „Lendruscheit, woll’n Se’ne Runde Walzer tanzen oder dreht sich dann Ihr Holzbein ab? Ha ha, nichts für ungut, kommen Se, wir heben einen. Und da, die sind fürn Heimweg!“ Er stopft dem armen Mann drei dicke Zigarren in die Brusttasche und bestellt ein Herrengedeck – mit doppeltem Beschleuniger. Lendruscheit ist zuerst verärgert, dann stolz. Er strahlt seinen Chef an und fühlt sich ihm für ein paar Augenblicke ebenbürtig.
Manfred weiß aus Erfahrung genau, wann und in welchem Zustand seine Eltern zurückkommen werden. Hackevoll wird der Alte Fabrikant noch spät in der Nacht seine Frau besteigen, die unter alkoholischer Vollnarkose alles geschehen lässt. Marlene weiß nicht, wann ihre Eltern heimkommen. Sie ist unruhig. Ein paar Minuten nach Mitternacht flieht sie, bis zum Rhododendron begleitet von Manfred. Der hebt sie über den Zaun – ein Blick – nein, Gott sei Dank noch kein Licht im Souterrain und daher noch Zeit für Küsse, Küsse, Küsse. Als Motorengeräusche von der Straße zu hören sind – ein vorbeifahrendes Auto? Ein anhaltendes Taxi? –, läuft Marlene zum Haus, öffnet das angelehnte Fenster, springt in ihr Zimmer und huscht zur Toilette, in der um das Waschbecken herum alle Körperpflege-Utensilien der Familie an Haken hängen. Die Mutter wird wenig später bemerken, dass Marlenes Zahnbürste noch feucht, nein, sogar nass ist, obwohl sie schon fest zu schlafen scheint. Natürlich schläft Marlene nicht. Nicht in dieser Nacht. So hört sie, wie das Holzbein des Vaters zuerst ans Bett gestellt wird und dann umfällt; wie die Mutter kichert und wenig später ein Grunzduett durch die Wand dringt. Dann kommen viele „Aaaahs“, etwas Ruhe und dann zimmermannmäßiges Schnarchen. Marlene weiß seit dieser Nacht, was die „Aaaahs“ bedeuten. Es ist etwas Schönes, auch wenn es noch wehtut.
Der Sonntagmorgen, normalerweise fest vergeben an die Langeweile, entwickelt sich dieses Mal völlig anders. Vater Lendruscheit hätte man sogar das zweite Bein amputieren können – zur Kirche wäre er zur Not gerobbt. Aber nicht mit einem Kater, der den Kopf spaltet und einen Vulkanausbruch nach dem anderen simuliert. Schwankend kommt er von der Toilette und grummelt: „Scheiße, ich kann nicht mal kotzen. Obwohl ich ständig würgen muss.“ Die Gefahr, in die Kirche zu torkeln und sich dort zu übergeben, ist real. Daher der Befehl: „Geh’ mit der Tochter!“ Aber Mutter Lendruscheit will nicht, weil sie nicht kann. Es ist ebenfalls der Kopf. Sie schleppt sich in Marlenes Zimmer und bittet: „Geh’ du, mein Kind. Und pass schön auf, was der Pfarrer sagt.“ Marlene ist nicht nach Beten zumute. Sie spürt ein unbändiges Verlangen zu beichten. Besser, zu reden, sich auszutauschen.
Im Hause Pretorius ist es still. Eine Stille, die bis weit in den Nachmittag reicht. Manfred hat die Nacht der Nächte durchlebt. Zweimal hat er noch Hand an sich gelegt, um die ungeheure Energie, die sich in seinem Unterleib nach den Stunden mit Marlene aufgestaut hat, wieder loszuwerden. Und auch wenn sich in seinem Kopf alles dreht, eines ist klar: Er will sie. Will ihr nah sein, wann immer es möglich ist. Sie muss mit ihren Eltern zur Kirche gehen, das weiß er. Der Sonntagmorgen ist damit verplant. Manfred wird auch in die Kirche gehen, Abstand halten, aber so viele Blicke wie nur eben möglich von ihr einfangen. Er weiß, wo St. Jodokus liegt, wenngleich er nie dort war. (Logisch, er ist schließlich nicht katholisch, so wie mein Bahnhof, wenn ich das mal an dieser Stelle werbewirksam einschieben darf.) Dann wird Gottes große Gnade den Liebenden zuteil. Manfred steht, lässig an sein Fahrrad gelehnt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtet die braven Kirchgänger, wie sie mit ruhigen Schritten zum Portal gehen, wo sie ein Mann in schwarzer Soutane begrüßt, bevor sie eintreten. Plötzlich, die Glocken läuten schon bedrohlich lange und der Strom der Gottesdienstgänger ist fast verebbt, rast ein dunkelblonder Engel mit wehenden Haaren auf einem alten Damenrad heran. Offener roter Anorak, darunter ein schwarzer Rock mit weißer Bluse. Manfred sieht gebannt hin: weit und breit keine Eltern des Engels. Eine himmlische Fügung? Er wartet eine kleine Minute, dann läuft er rüber, zieht die schwere Kirchentür auf und sieht auf der letzten Bank den begehrenswertesten Schopf des Erdenrunds. Ohne Griff ins Weihwasserbecken, ohne sich zu bekreuzigen, schlüpft er als letzter Teilnehmer der Veranstaltung neben die auf der Bank liegende rote Jacke, den Blick starr nach vorne