»Gut. Und was geschah, als Ihr Stiefvater, Mr. Windibank, nach Frankreich zurückkehrte?«
»Mr. Hosmer Angel kam wieder ins Haus und schlug vor, wir sollten heiraten, bevor Vater wieder zurückkäme. Es war ihm schrecklich ernst, und er ließ mich mit der Hand auf der Bibel schwören, dass – was immer auch geschähe – ich ihm stets treu sein würde. Mutter sagte, er hätte ganz recht, mich schwören zu lassen, und dass das ein Zeichen seiner Leidenschaft wäre. Mutter war ihm von Anfang an zugetan und mochte ihn noch lieber als ich. Aber dann, als sie davon sprachen, noch diese Woche zu heiraten, fing ich an, wegen Vater zu fragen, aber sie sagten beide, ich sollte mir wegen Vater keine Gedanken machen, sondern es ihm einfach hinterher mitteilen, und Mutter sagte, sie würde das schon mit ihm in Ordnung bringen. Mir gefiel das nicht so recht, Mr. Holmes. Es schien mir lachhaft, dass ich ihn um Erlaubnis fragen sollte, wo er doch nur ein paar Jahre älter ist als ich; aber ich wollte nichts heimlich tun, und so schrieb ich Vater nach Bordeaux, wo die Gesellschaft ihre französischen Büros hat, aber der Brief kam gerade am Hochzeitsmorgen an mich zurück.«
»Er hatte ihn also verfehlt?«
»Ja, Sir, weil er gerade nach England abgereist war, bevor der Brief ankam.«
»Ha, das war bedauerlich. Ihre Hochzeit war also für Freitag festgesetzt. Sollte sie in der Kirche stattfinden?«
»Ja, Sir, aber in aller Stille. Sie sollte in St. Saviour sein, bei King’s Cross, und wir wollten hinterher im Hotel ›St. Pancras‹ frühstücken. Hosmer kam in einer zweirädrigen Droschke, um uns abzuholen, aber da wir zu zweit waren, setzte er uns beide hinein und stieg selbst in eine vierrädrige, die zufällig gerade die einzige Droschke in der Straße war. Wir kamen zuerst bei der Kirche an, und als die vierrädrige vorfuhr, warteten wir, dass er aussteigen sollte, aber er tat es nicht, und als der Droschkenkutscher von seinem Bock herunterstieg und nachschaute, war niemand drinnen! Der Droschkenkutscher sagte, er könne sich nicht vorstellen, was aus ihm geworden sei, denn er habe ihn mit eigenen Augen einsteigen sehen. Das geschah letzten Freitag, Mr. Holmes, und ich habe seither nichts gesehen oder gehört, das ein Licht darauf werfen könnte, was aus ihm geworden ist.«
»Mir scheint, Sie sind sehr schändlich behandelt worden«, sagte Mr. Holmes.
»O nein, Sir! Er war zu anständig und liebenswürdig, um mich so zu verlassen. Und dann sagte er den ganzen Morgen zu mir, dass ich, was auch immer geschähe, ihm treu bleiben solle; und dass auch, wenn etwas ganz Unvorhergesehenes eintreten und uns trennen würde, ich mich stets daran erinnern solle, dass ich ihm versprochen sei und dass er früher oder später dieses Versprechen einfordern werde. Es schien ein befremdliches Gespräch für einen Hochzeitsmorgen, aber was seither geschah, gibt dem Ganzen einen Sinn.«
»Ganz sicherlich tut es das. Ihre eigene Meinung ist also, dass ihm eine unvorhergesehene Katastrophe widerfahren ist?«
»Ja, Sir. Ich glaube, dass er eine Gefahr ahnte, sonst hätte er nicht so gesprochen. Und dann, denke ich, ist seine Befürchtung eingetreten.«
»Aber Sie haben überhaupt keine Vorstellung, was das gewesen sein könnte?«
»Keine.«
»Eine weitere Frage. Wie nahm Ihre Mutter die ganze Sache auf?«
»Sie war ärgerlich und sagte, dass ich nie wieder davon sprechen solle.«
»Und Ihr Vater? Erzählten Sie ihm davon?«
»Ja, und er dachte genau wie ich, dass etwas passiert sei und dass ich wieder von Hosmer hören würde. Wie er sagte: Welches Interesse sollte irgendjemand daran haben, mich bis zur Kirchentür zu bringen und dann zu verlassen? Also, wenn er Geld von mir geliehen hätte oder wenn er mich geheiratet hätte und ihm mein Geld überschrieben worden wäre, dann hätte er einen Grund gehabt; aber was Geld anbetrifft, war Hosmer völlig unabhängig und würde niemals einen Schilling von mir anschauen. Und dennoch, was könnte geschehen sein? Und warum schreibt er wohl nicht? Oh, es macht mich halb wahnsinnig, daran zu denken! Und ich kann nachts kein Auge zutun.« Sie zog ein kleines Taschentuch aus ihrem Muff und fing an, heftig hineinzuschluchzen.
»Ich werde für Sie einen Blick auf den Fall werfen«, sagte Holmes und erhob sich, »und ich zweifle nicht, dass wir ein eindeutiges Ergebnis erreichen werden. Überlassen Sie die Bürde dieser Angelegenheit nun mir, und lassen Sie Ihre Gedanken nicht länger dabei verweilen. Vor allem, versuchen Sie, Mr. Hosmer Angel aus Ihrem Gedächtnis verschwinden zu lassen, so wie er schon aus Ihrem Leben verschwunden ist.«
»Dann glauben Sie nicht, dass ich ihn wiedersehen werde?«
»Ich fürchte nein.«
»Aber was ist dann mit ihm geschehen?«
»Sie werden diese Frage mir überlassen. Ich hätte gern eine genaue Beschreibung von ihm und einige seiner Briefe, die Sie erübrigen können.«
»Ich habe durch ein Inserat im Chronicle vom letzten Samstag nach ihm gesucht«, sagte sie. »Hier ist der Abschnitt und hier sind vier Briefe von ihm.«
»Danke. Und Ihre Adresse?«
»31 Lyon Place, Camberwell.«
»Mr. Angels Adresse hatten Sie nie, wenn ich recht verstanden habe. Wie ist die Geschäftsadresse Ihres Vaters?«
»Er reist für Westhouse & Marbank, die großen Bordeaux-Importeure in der Fenchurch Street.«
»Danke. Sie haben Ihre Erklärung in aller Deutlichkeit abgegeben. Sie werden die Papiere hier lassen und den Ratschlag beherzigen, den ich Ihnen gegeben habe. Lassen Sie den ganzen Vorfall ein versiegeltes Buch sein, und erlauben Sie ihm nicht, Ihr Leben zu beeinträchtigen.«
»Sie sind sehr liebenswürdig, Mr. Holmes, aber das kann ich nicht. Ich werde Hosmer treu sein. Er wird mich bereit finden, wenn er zurückkommt.«
Trotz des grotesken Hutes und des nichtssagenden Gesichts lag eine gewisse Würde in dem schlichten Vertrauen unserer Besucherin, das uns Respekt abnötigte. Sie legte ihr kleines Papierbündel auf den Tisch und machte sich mit dem Versprechen auf den Weg, jederzeit wiederzukommen, wenn man sie rufe.
Sherlock Holmes saß einige Minuten schweigend da, die Fingerspitzen gegeneinandergepresst, die Beine ausgestreckt und seinen Blick der Decke zugewandt. Dann nahm er aus dem Regal seine alte abgegriffene Tonpfeife, die ihm gleichsam ein Ratgeber war, und nachdem er sie angesteckt hatte, lehnte er sich in seinen Sessel zurück, von dichten blauen Rauchringen umwogt und mit einem Ausdruck unendlicher Gleichgültigkeit auf seinem Gesicht.
»Ein recht interessanter Fall, dieses Mädchen«, bemerkte er. »Ich fand sie interessanter als ihr kleines Problem, das, nebenbei gesagt, ziemlich abgedroschen ist. Sie finden Parallelfälle, wenn Sie in meinem Verzeichnis nachsehen, unter Andover ’77, und etwas in der Art gab es letztes Jahr in Den Haag. So alt diese Idee auch sein mag, ein oder zwei Einzelheiten waren mir neu. Aber das Mädchen selbst war höchst aufschlussreich.«
»Sie scheinen eine ganze Menge an ihr wahrgenommen zu haben, was für mich unsichtbar war«, bemerkte ich.
»Nicht unsichtbar, sondern unbeachtet, Watson. Sie wussten nicht, worauf Sie achten mussten, und so entging Ihnen alles, was wichtig war. Ich kann Sie nie dazu bringen, die Wichtigkeit von Ärmeln zu begreifen, das Vielsagende von Daumennägeln oder die bedeutsamen Fragenkomplexe, die an einem Schnürsenkel hängen können. Also, was konnten Sie aus der Erscheinung dieser Frau schließen? Beschreiben Sie’s.«
»Nun, sie trug einen schieferfarbenen, breitrandigen Strohhut mit einer ziegelroten Feder darauf. Ihre Jacke war schwarz mit aufgenähten schwarzen Perlen und einem Besatz aus kleinen schwarzen Jettornamenten. Ihr Kleid war braun, noch dunkler als Kaffee, mit etwas dunkelrotem Plüsch am Hals und an den Ärmeln. Ihre Handschuhe waren gräulich und am rechten Zeigefinger durchgescheuert. Ihre Stiefel