Dracula. Bram Stoker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bram Stoker
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159616995
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Ungeheuer. Der Abgrund ist steil und tief. In seinem Schoß mag ein Mann schon Ruhe finden – er wäre dann doch ein Mann geblieben und ein Mensch. Lebt wohl, ihr alle! Und lebe wohl, Mina!

      Fünftes Kapitel

      Miss Mina Murray an Miss Lucy Westenra

       Brief

       9. Mai

      Liebste Lucy,

      verzeih, dass ich Dir so lange nicht geschrieben habe; aber ich war regelrecht zugeschüttet mit Arbeit. Das Leben einer Hilfslehrerin ist manchmal schon sehr mühsam. Wie gern wäre ich jetzt bei Dir, noch dazu an der See, wo wir frei miteinander plaudern und unsere Luftschlösser bauen können! Gerade in letzter Zeit hatte ich eine Menge zu tun, denn ich möchte doch mit Jonathans Studien Schritt halten. Deshalb lerne ich zum Bespiel höchst fleißig Kurzschrift. So kann ich, wenn wir erst verheiratet sind, Jonathan doch von einigem Nutzen sein; vorausgesetzt, ich beherrsche die Stenographie bis dahin gut genug, notiere ich dann, was er sagt, in Kurzschrift fest und bringe das Ganze anschließend auf der Schreibmaschine ins Reine; ja, auch Tippen lerne ich gerade mit großem Eifer. Er und ich korrespondieren manchmal in Kurzschrift, und er führt auf seinen Auslandsreisen ein stenographisches Tagebuch. Wenn ich dich besuche, werde ich das gleichfalls tun. Ich nehme aber dafür nicht einen dieser vorgedruckten Terminkalender, so von der Art ›eine Doppelseite pro Woche und den Sonntag ganz klein in die Ecke gequetscht‹, sondern eine schlichte Kladde, in die ich nur dann etwas eintrage, wenn es mich dazu drängt. Ich glaube eher nicht, dass darin Sachen landen, die andere Leute lesen möchten; aber für die ist mein Journal ja auch nicht bestimmt. Vielleicht zeige ich es irgendwann einmal Jonathan, sollte denn etwas darin sein, das mitteilenswert wäre; aber eigentlich ist das Ganze nur zur Übung gedacht. Einige Damen haben inzwischen ihre Journale sogar veröffentlicht, und an ihnen will ich mich beim Schreiben orientieren, also beeindruckende Begegnungen und Örtlichkeiten schildern und überdies versuchen, interessante Gespräche aus der Erinnerung festzuhalten. Ich habe gehört, es erfordere nur ein wenig geistige Disziplin, und man kann sich alles ins Gedächtnis rufen, was am Tage geschehen ist und gesagt wurde. Nun denn, wir werden ja sehen. Wenn wir uns treffen, werde ich Dir von meinen kleinen Plänen berichten. Soeben erhalte ich einen Brief von Jonathan aus Transsilvanien; nur ein paar flüchtige Zeilen: es geht ihm gut, und er kommt in ungefähr einer Woche zurück. Ich brenne darauf zu hören, was er alles erlebt hat. Es muss wirklich schön sein, fremde Länder zu besuchen. Ob wir – ich meine: Jonathan und ich – wohl jemals gemeinsam reisen? So, da läutet es zehn Uhr. Auf Wiedersehen.

      Alles Liebe

      Deine Mina

      PS: Wenn Du mir schreibst, unterrichte mich bitte umfassend. Du hast mir schon lange nichts mehr aus Deinem Leben mitgeteilt. Ich höre immer nur so Gerüchte; besonders ist da die Rede von einem großen, gutaussehenden Herrn mit lockigem Haar??? M.

      Lucy Westenra an Mina Murray

       Brief

       17, Chatham Street

       Mittwoch

      Liebste Mina,

      also, ich muss schon sagen: Deinen Vorwurf, ich sei eine träge Briefschreiberin, finde ich sehr ungerecht. Seit unserem letzten Wiedersehen habe ich Dir bereits zweimal geschrieben, und Dein jüngster Brief ist auch erst der zweite. Außerdem habe ich Dir nichts mitzuteilen, jedenfalls nichts, was Dich interessieren könnte. In der Stadt ist das Leben jetzt sehr vergnüglich; wir vertreiben uns die Zeit, indem wir Gemäldegalerien besuchen, spazieren gehen oder im Park reiten. Was den ›großen gelockten Mann‹ betrifft, so ist damit vermutlich jener Herr gemeint, der mich auf das letzte Volkskonzert begleitet hat. Da musste offenbar wieder irgendwer die Klatschbase spielen. Nun denn, es handelt sich um Mr. Arthur Holmwood. Er kommt öfter zu uns; er und Mama verstehen sich bestens; die beiden finden immer ein Thema, über das sie plaudern können. Wir haben übrigens vor einiger Zeit noch einen anderen Herrn kennengelernt, und der würde genau zu Dir passen, wärest Du nicht schon mit Jonathan verlobt. Eine exzellente ›Partie‹, der Mann, von glänzender Erscheinung, wohlhabend und aus bester Familie. Er ist Arzt und hat wahrhaft einiges auf dem Kasten. Denk Dir nur: erst neunundzwanzig – und leitet schon eine riesige Nervenheilanstalt. Mr. Holmwood hat ihn mir vorgestellt; dann hat er uns hier besucht, und jetzt schaut er öfter vorbei. Ein unglaublich energischer Mensch, muss ich sagen, dabei aber von unglaublicher Gemütsruhe. Er scheint durch nichts zu erschüttern zu sein. Ich kann mir lebhaft vorstellen, welch wunderbaren Einfluss er auf seine Patienten ausübt. Allerdings hat er eine merkwürdige Angewohnheit: er blickt den Leuten immer so direkt ins Gesicht, als wolle er darin ihre Gedanken lesen. Auch bei mir versucht er dies immer wieder, aber ich glaube, ich darf mir schmeicheln, dass er an meiner Mimik eine recht harte Nuss zu knacken hat. Ich bin in dieser Hinsicht einigermaßen versiert, weil ich mein Mienenspiel häufig im Spiegel prüfe. Hast Du auch schon einmal versucht, in deinem eigenen Gesicht zu lesen? Ich ja. Ein sehr empfehlenswertes Studium, versichere ich Dir; am Anfang zwar schwieriger, als man meinen könnte, aber äußerst lehrreich. Der Herr Doktor sagt, ich sei für ihn ein hochinteressantes psychologisches Studienobjekt – und ich bin so unbescheiden, das auch zu glauben. Beispielsweise reizt mich, wie Du ja weißt, das Thema Mode kaum: so wenig, dass ich gar nicht in der Lage wäre, den neuesten Chic zu beschreiben. Kleider finde ich stinklangweilig. Wieder diese unfeine Sprache, aber wenn schon, Arthur benutzt den Ausdruck auch andauernd. Oh – nun ist es heraus! Liebe Mina, wir haben uns doch von klein auf all unsere Geheimnisse anvertraut; wir haben gemeinsam geschlafen und gegessen, zusammen gelacht und geweint, und wo ich nun schon einmal etwas herausgelassen habe, drängt es mich, mehr herauszulassen. Ach, Mina, errätst Du es nicht? Ich liebe ihn. Ich erröte, während ich dies schreibe, denn obgleich ich glaube, dass er mich auch liebt, hat er es mir bisher noch nicht in Worten bekannt. Jedenfalls, Mina – ich liebe ihn, ich liebe ihn! Nun ist mir wohl. In diesem Augenblick wäre ich gern bei Dir, beste Freundin! Wir säßen, unser alten Gewohnheit folgend, kurz vorm Zubettgehen schon halb ausgezogen am Kamin, und ich würde Dir meine Gefühle schildern, oder es doch versuchen. Ich weiß nämlich gar nicht, wie mir da eben gelungen ist, Dir dieses Geständnis zu schreiben. Jetzt fürchte ich mich sogar aufzuhören. Oder sollte ich besser den Brief zerreißen? Nein, ich mag nicht abbrechen, so sehr verlangt es mich, Dir alles zu erzählen. Antworte mir bitte gleich, und sage mir freimütig, was Du darüber denkst. Mina, ich muss doch schließen. Gute Nacht. Bete für mich, und, Mina, bete für mein Glück.

      Lucy

      PS: Du weißt ja wohl, ohne dass ich es eigens betone: Das alles ist geheim. Nochmals gute Nacht.

      L.

      Lucy Westenra an Mina Murray

       Brief

       24. Mai

      Meine allerliebste Mina,

      Danke, danke, tausendmal danke für Deinen warmherzigen Brief! Wie schön, dass ich Dir alles erzählen konnte und dass Du mit mir fühlst.

      Meine Liebe, der Volksmund sagt: »Ein Unglück kommt selten allein.« Oder: »Es regnet nie, aber wenn, dann gießt es.« Wie recht sie doch haben, diese alten Sprichwörter. Da stehe ich nun, zwanzig im September, und noch nie ein Heiratsantrag bisher, jedenfalls kein ernsthafter – und heute gleich drei auf einmal! Stelle Dir das vor: DREI Bewerber an einem Tag! Ist das nicht schlimm? Ja, schlimm, denn die beiden armen Burschen, die leer ausgehen, tun mir leid, wirklich und wahrhaftig leid. Ach, Mina, ich bin so glücklich, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Drei Bewerber! Aber um Gottes willen, Mina, bitte: zu keinem ein Wort, vor allem zu keinem der Mädchen! Die verfallen sonst auf die übelsten Spinnereien. So eine fühlt sich ja schon beleidigt und herabgewürdigt, wenn sie nach Hause kommt, und es stehen nicht, noch bevor der Tag endet, ihrer mindestens sechs an. Manche Mädchen pflegen vielleicht eine Eitelkeit! Du und ich dagegen, Mina, die wir schon verlobt sind und bald zu erfahrenen Ehefrauen reifen, können dergleichen gelassen verachten. Nun muss ich Dir aber von den dreien berichten, aber halte es