Dracula. Bram Stoker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bram Stoker
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159616995
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wohin ihr gehört! Eure Zeit ist noch nicht gekommen. Wartet! Habt Geduld! Die heutige Nacht gehört noch mir. Die morgige Nacht aber gehört euch!«

      Ein leises, süßliches Kichern war die Antwort. Wütend stieß ich die Tür auf und erblickte draußen die schrecklichen Weiber, die sich begierig die Lippen leckten. Als sie mich sahen, brachen sie alle drei in ein grausiges Lachen aus und rannten davon.

      Ich ging wieder in mein Zimmer und sank auf die Knie. So nahe also ist es schon, mein Ende? Morgen! Morgen! Gott, hilf mir und all jenen, die mich lieben!

      30. Juni, morgens. – Das Folgende sind vielleicht die letzten Worte, die ich in dieses Buch schreibe. – Ich schlief bis kurz vor Tagesanbruch. Nachdem ich erwacht war, kniete ich erneut nieder, denn wenn der Tod schon käme, sollte er mich wenigstens nicht unvorbereitet finden.

      Da aber spürte ich jene feinen Veränderungen in der Luft, die signalisieren, dass der Morgen kommt. Dann ertönte der ersehnte Hahnenschrei, und – ich fühlte mich gerettet. Frohen Herzens öffnete ich meine Tür und rannte hinunter in die Halle. Gestern abend hatte ich genau registriert, dass das Tor nicht verschlossen war. Nun lag der Weg zur Flucht frei. Meine Hände zitterten vor Erregung, als ich die Ketten aushakte und die massiven Riegel zurückschob.

      Aber das Tor bewegte sich nicht. Verzweiflung packte mich. Ich zerrte und zerrte und rüttelte daran, bis die dicke Holzpforte trotz aller Schwere in ihrem Rahmen rappelte. Umsonst: ich merkte, dass der Schlossriegel in der Zarge steckte. Der Graf musste, nachdem ich ihn gestern abend verlassen hatte, noch einmal hinuntergegangen sein und zugesperrt haben.

      Da ergriff mich ein wildes Verlangen, mir um jeden Preis diesen Schlüssel zu beschaffen. Noch einmal sollte es die Mauer hinab in das Zimmer des Grafen gehen. Vielleicht würde er mich töten, aber der Tod erschien mir verglichen mit dem, was mir sonst bevorstand, als das freundlichere Übel. Ohne zu zögern, stürzte ich hinauf zu dem ostwärts gelegenen Fenster und kletterte von dort, wie beim letzten Mal, die Außenwand hinunter und landete schließlich im Zimmer des Grafen. Es war leer, aber das hatte ich auch nicht anders erwartet. Einen Schlüssel indes konnte ich nirgends erblicken, doch der Haufen Goldmünzen lag noch dort. Ich ging durch die Ecktür, die Wendeltreppe hinab und durch den dunklen Gang, bis ich in die alte Kapelle gelangte. Ich wusste inzwischen sehr genau, wo das Ungeheuer zu finden war, das ich suchte.

      Der große Kasten stand nach wie vor nahe der Wand; doch jetzt lag der Deckel darauf. Er war zwar nicht befestigt, aber die Nägel steckten schon und brauchten nur noch eingeschlagen zu werden. Es half nichts; wenn ich den Schlüssel wollte, musste ich die Kleider des Grafen durchsuchen. Also hob ich den Deckel und drehte ihn waagerecht zur Wand hin. Dann aber erblickte ich etwas, das mein Herz mit Grauen erfüllte. Da lag der Graf wie tot, aber er sah aus, als wäre er in jüngere Jahre zurückgekehrt. Haar und Schnauzbart, vordem weiß, waren nun von dunklem Eisengrau, die Wangen voller, und unter der weißen Haut schimmerte es rubinrot. Der Mund leuchtete röter als je, denn auf den Lippen standen dicke Tropfen frischen Blutes, das ihm auch aus den Mundwinkeln sickerte und über Kinn und Hals lief. Selbst die feurigen Augen lagen nicht mehr so tief; offenbar hatte sich neues Fleisch um sie gebildet, denn die Lider und die Tränensäcke darunter wirkten regelrecht gedunsen. Es war, als hätte sich die ganze grässliche Kreatur geradezu vollgepumpt mit Blut. Er lag da wie ein schäbiger Egel, erschöpft vor Übersättigung. Ich schauderte, als ich mich über ihn beugte und ihn berührte. Jeder meiner Sinne sträubte sich dagegen, aber ich musste ihn doch durchsuchen, sonst war ich verloren, und morgen nacht würde mein Körper ein Festmahl für die drei Entsetzlichen werden, die sich über mich dann genauso hermachten wie der Graf über sein jüngstes Opfer. Ich tastete seinen ganzen Körper ab – nirgendwo ein Schlüssel, nicht eine Spur. Dann hielt ich einen Augenblick inne und schaute dem Grafen ins Antlitz. Ein höhnisches Lächeln spielte auf dem gedunsenen Gesicht, das mich fast zum Wahnsinn trieb. Dieses Wesen würde nun mit meiner Hilfe nach London übersiedeln. Er käme jetzt in eine wimmelnde Metropole; unter den Millionen und Abermillionen Menschen würde er, womöglich jahrhundertelang, seine Blutgier befriedigen und eine sich ständig vergrößernde Schar von Halbdämonen schaffen, die sich ihrerseits an den Wehrlosen gütlich täten. Allein der Gedanke machte mich verrückt. Es überkam mich eine unheimliche Lust, die Welt von solch einem Ungeheuer zu befreien. Eine Tötungswaffe hatte ich nicht zur Hand; so ergriff ich denn eine der Schaufeln, welche die Arbeiter zum Füllen der Kisten benutzt hatten, und holte weit aus, um mit der scharfen Kante in das abscheuliche Gesicht zu schlagen. Doch gerade in dem Moment wandte sich der Kopf des Grafen, und grässliche Basiliskenaugen richteten sich in voller Glut auf mich. Der Anblick schien mich zu lähmen; die Schaufel zitterte mir in der Hand, und der Hieb streifte das Gesicht nur flüchtig: immerhin hinterließ er eine tiefe Wunde oberhalb der Stirn. Dann glitt mir die Schaufel aus der Hand und landete auf dem Sarg. Sie lag nun quer über dem Deckel. Ich wollte sie dort wegziehen; dabei hakte sich die Oberkante des Blattes in der Längsseite des Deckels fest, der nun in die ursprüngliche Position zurückglitt, so dass sie den Kasten wieder verschloss und die Grässlichkeit meinen Augen verbarg, nachdem ich noch einmal kurz das gedunsene, blutbefleckte Gesicht erblickt hatte. Das boshafte Grinsen, das starr darin saß, hätte wohl in der allertiefsten Hölle kaum seinesgleichen gefunden.

      Ich grübelte und grübelte, was der nächste Schritt sein müsste, aber mein Hirn schien in Flammen zu stehen. Ein Gefühl der Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Ich konnte nur warten.

      Während ich so dastand, vernahm ich plötzlich aus der Ferne ein Zigeunerlied. Fröhliche Stimmen brachten es zu Gehör. Der Gesang kam näher, und zwischendrin rollten schwere Räder und knallten Peitschen. Es waren die Cigány und die Slowaken, von denen der Graf gesprochen hatte. Ich warf einen letzten Blick um mich und auf die Kiste, die den scheußlichen Körper barg, und rannte hoch in das Zimmer des Grafen. Dort blieb ich erst einmal; wenn die Leute zu den Gewölben wollten, mussten sie ja hier durch, dachte ich mir. Also legte ich mich auf die Lauer, bereit hinauszuschlüpfen, sobald die Tür sich öffnete. Angespannt lauschte ich und hörte, wie sich unten ein Schlüssel in irgendeinem großen Schloss drehte und das schwere Tor aufgestoßen wurde. Hoch kam keiner; es muss also noch einen anderen Zugang zur Krypta geben, von draußen vielleicht; oder jemand besitzt auch einen Schlüssel zu einer der zahlreichen sonst abgeschlossenen Türen innerhalb der Burg. Jedenfalls vernahm ich nun das Trappeln vieler Füße, ein lautes Gedröhn, dessen Widerhall bis zu mir heraufschallte. Dann verlor sich das Geräusch in irgendeinem Gang. Rasch wollte ich wieder hinunter zu den Gewölben, denn dort musste ich ja wohl den unentdeckten Ausgang suchen. Aber in diesem Augenblick fegte ein gewaltiger Windstoß heran, und die Ecktür zur Wendeltreppe fiel mit solcher Gewalt zu, dass der Staub von der Bekrönung flog. Als ich hinsprang, um sie wieder aufzudrücken, musste ich feststellen, dass sie hoffnungslos klemmte. Ich war erneut ein Gefangener, und das Netz des Verderbens zog sich noch enger um mich.

      Während ich dies schreibe, tönen wieder zahlreiche stampfende Schritte aus dem Gang unten empor, desgleichen das polterige Absetzen schwerer Lasten, offenbar der erdgefüllten Kisten. Nun wird gehämmert; jetzt nageln sie also die Kiste mit dem Grafen zu. Und da kommen sie zurück, die stampfenden Schritte, und trampeln durch die Halle, gefolgt vom leichtfüßigen Getrappel jener vielen, die sich vor dem Tragen drücken konnten.

      Das Haupttor wird geschlossen; die Ketten rasseln, dann knirscht ein großer Schlüssel im Schloss. Ich höre, wie er herausgezogen wird. Dann öffnet und schließt sich eine andere Tür; wieder knarren Schloss und Riegel.

      Horch! Das Rollen schwerer Räder, erst im Hof, dann den Felsweg hinab; eine Weile noch das Peitschenknallen und der Chor der Cigány, bis alles in der Ferne verhallt.

      Ich bin allein im Schloss mit den schrecklichen Frauen. Obwohl – Frauen? Pah! Mina ist eine Frau, sie und jene drei Weiber haben nichts gemein. Das sind Dämonen der Unterwelt!

      Ich werde nicht allein mit ihnen hierbleiben. Ich werde versuchen, die Schlossmauer tiefer hinabzusteigen, als ich es bisher wagte. Ich will mir auch etwas von dem Gold mitnehmen; womöglich kann ich es später brauchen. Vielleicht finde ich ja doch einmal einen Weg hinaus aus dieser Stätte des Schreckens.

      Und dann fort! Heim! Fort zum nächsten und schnellsten Zug! Fort von diesem verfluchten Ort, aus diesem verfluchten Land, wo jetzt noch der Teufel und seine Kinder in irdischer