Eine Urlaubsliebe. Ewald Arenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ewald Arenz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783747201572
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Vater war ein Pferd. Ein Pferd!«, wiederholte er. Dann nahm er den Stock von meiner Brust.

      »Was?«, fragte ich völlig verblüfft. »Was?«

      »Ein Pferd!«, bestätigte der Alte und schlug sich dann vor die Stirn: »Ach natürlich«, unterbrach er sich in plötzlicher Erkenntnis selbst, »es ist ja Genetikerkongress, deshalb seid ihr hier. Deine Mutter«, sagte er nun wieder im Gesprächston, »hat schon immer gern mit Genen gespielt. Es brauchte keinen Mann für dich.«

      Es war dieser Gesprächston, der mich überzeugte. Der mir sagte, dass der alte Mann nicht log oder wirres Zeug erzählte. Ich hatte auf einmal das Gefühl, als würde ich alles von weit weg hören. Auch mich selbst.

      »Deshalb wollten Sie mich tot haben«, sagte ich flach.

      Der Alte nickte.

      »Du bist ein Bastard«, sagte er im sachlichen Ton, »wenn es überhaupt einen Bastard gibt, dann bist du einer. Du bist eine lebendige Sünde gegen die Natur. Du bist kein richtiger Mensch. Wenn man bedenkt, was schon ein einziges Chromosom zu viel anrichten kann, und dann dich ansieht: Du kannst gar kein Mensch sein. Sag mir«, fragte er eindringlich und beugte sich vor, »kannst du Gras essen? Deine Mutter wollte, dass du Gras essen kannst. Wegen des Hungers, hat sie gesagt, damals.« Er lachte.

      Mir wurde schlecht.

      »Hat sie … hat sie mich …«, würgte ich an den Worten herum, »hat sie mich ausgetragen?«

      Das Gesicht des Alten verzerrte sich von Hass.

      »Ja. Sie hat dich ausgetragen. Ein Tier gemacht, sich eingesetzt und ausgetragen. ›Mein Sohn‹ hat sie gesagt, als sie das erste Mal herkam. Ha! Ha! Sohn! ›Ich hab geworfen‹, hätte sie sagen sollen, ›schaut mal, ich hab geworfen‹. Enkel! Hör zu«, geiferte der Großvater, »ich habe keine Tiere zu Enkeln. Ich bin einer der besten Ärzte dieser Stadt gewesen, und ich hab kein Tier zum Enkel und keine Tochter, die ein Pferd einem Mann vorzieht.«

      Der Alte beruhigte sich wieder und sah mich kalt an:

      »Geh weg«, sagte er, als er mich würgen sah, »man hat schon Pferde kotzen sehen.«

      Ich drehte mich um und ging in den Gang; kämpfte dort mit meiner Übelkeit. Von oben rief die Großmutter besorgt zu mir nach unten: »Philipp?«

      Ich schaffte es in den Garten, bis ich mich übergeben musste.

      6

      Renn! Renn! Renn, Pferd! Renn! Ich peitschte mich selbst durch die Straßen. Ich rannte. Meine Lungen pfiffen längst, aber ich hörte nicht auf. Ein Pferd kann rennen! Ein Pferd kann rennen. Die Menschen um mich herum nahmen mich kaum wahr. Das Mittsommerfest war längst auf dem Höhepunkt, und alle Welt war schon angetrunken. Überall staubte Glitzer; manchmal atmete ich ein wenig davon ein, wenn ich mich weiterquälte. Rina war mir ein Stück nachgelaufen. Was ist ein Mädchen gegen ein Pferd. Renn! Tier. Tier. Renn, Tier, du kannst rennen, du bist nur ein Tier. Tiere rennen. Renn. Ich lief durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin. Für wen war die Musik? Für wen gab es Bier und Glitzer? Ich lief durch die Stadt, bis ich irgendwann wirklich nicht mehr konnte und ich einfach irgendwo einknickte und an eine Hausmauer gelehnt sitzen blieb. Jeder Atemzug tat weh. Ich hatte Angst, ich würde Blut spucken, wenn ich husten müsste. Um mich herum standen Menschen, die mich kaum beachteten. Die Straßen wurden für die ersten Feuerräder frei gemacht. Mittsommer. Hallo, dachte ich, heute Nacht können die Tiere eine Stunde lang sprechen. Hallo, ihr Menschen, hört mal. Ich rede mit euch. Das Pferd. Und was weiß ich, was noch alles. Was meine Mutter so zusammengemischt hat für ihren perfekten Sohn. Danke, dass du mich wenigstens ausgetragen hast. Danke, MAMA! Danke für die Haferflocken. Und die Äpfel. Und die Karotten. Sind gut für die Augen, was? Bitte gib mir noch ein Zuckerstückchen, für mein kleines Pony, danke, wiehert dann mein Ponypferdchen mit dem Namen Johnny, weit übers Land will es heute traben, soll mein kleines Ponypferdchen auch ein Zuckerstückchen haben. Irgendwann merkte ich, dass ich weinte.

      Als die Welle der ersten Feuerräder durch die Straßen gerollt war und die Menschen ihnen singend hinterherzogen, stand ich auch wieder auf. Es war Nacht geworden. Endlich. Am längsten Tag. Ich ging. Aber ich hatte keine Ahnung, wohin. Ich ließ mich treiben. Als mir jemand Glitzer anbot, wehrte ich erschreckt ab. Erschrocken, weil man mich angesprochen hatte. Ich lief wieder ein Stück. Die Nacht war so warm und Nürnberg ein einziges Fest.

      »Klipp – klopp!«, sang ich vor mich hin, als ich endlich aus der Innenstadt heraus war, »klipp – klopp!«

      Es war nicht schwer, in der Mittsommernacht in den Tiergarten zu kommen. Der Weg zum Märchentempel war weiter, als er mir im Bus vorgekommen war, aber ich hatte ja Zeit. Schließlich sah ich das schwache bläuliche Leuchten der Induktionsfelder auf der kleinen künstlichen Lichtung. Ich wanderte den sanften Hügel hinab zu dem Tempel, dessen provisorische Wände seit der Eröffnung fortgenommen worden waren, sodass er jetzt offen wirkte. Aus der Nähe konnte man die Felder zwischen den Säulen nur dann wahrnehmen, wenn sie leise knisterten oder wenn man zufällig den scharfen Ozongeruch in die Nase bekam. Ich kam näher. Keines der Wesen schlief. Das Einhorn bewegte noch immer in ruhigem Rhythmus sein Horn durch das Feld. Die Sphinx lag, den Kopf auf den Vorderpfoten schief, und beobachtete mich. Der Vogel Roch drehte den Kopf nach den Geräuschen, die ich verursachte. Ich setzte mich auf die Stufen, dort, wo ich alle sehen konnte.

      Von der Stadt klangen verweht die Geräusche des Festes herüber. Dann wurde es kühler im Tiergarten. Und dann musste es Mitternacht sein, denn plötzlich explodierte die Stadt in Feuerwerk, in brennenden Hürden und in Lärm. Die Wesen fuhren entsetzt herum.

      »Frohen Mittsommer«, sagte ich, »Geschwister.«

      Kein Laster ist so dumm, daß sich’s nicht ein

      Paar Tugendfetzen außen um sich schlingt.

      aus: William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, III, 2

      Tod in Venedig

      Die Sonne war eben aufgegangen, und der Nebel über den Kanälen begann sich ein wenig zu lichten. Es war sehr still und sehr kühl. Zwei Gemüseboote schaukelten neben der Fondamenta Sant’Anna im Wasser. Die Kaufleute rollten die Planen auf, sortierten das Gemüse auf den hölzernen Auslagen und warteten auf Kunden. Iron war davor stehen geblieben, rieb sich die Hände und steckte sie dann wieder in die Jackentasche. Es war kalt in Venedig. Februar. Er drehte sich zu dem italienischen Kollegen um.

      »Hier?«, fragte er und deutete in den Dunst, der über dem Kanal lag. Vice Commissario Zanetti nickte.

      »Hier hat man ihn hineingeworfen. In den Kanälen ist nicht viel Strömung. Er ist nicht abgetrieben.«

      Iron beugte sich mit mäßiger Neugier noch einmal vor, dann drehte er sich zu den Marktbooten um und stieß mich an.

      »Hast du auch solchen Hunger?«, fragte er halblaut.

      Ich schüttelte den Kopf. Außerdem war ich damit beschäftigt, die malerische Morgenstimmung aufs Bild zu kriegen, was nicht so einfach war, weil Iron sich ständig vor die Kamera drängte und mich fragte, ob ich Hunger hätte. Ich schubste ihn weg und ging ein paar Schritte.

      »Fotografieren Sie den Tatort noch mal?«, fragte Vice Commissario Zanetti, der mir gefolgt war, mit Bewunderung in der Stimme. »Ihr Deutschen seid wirklich gründlich.«

      Ich nickte und schwenkte meine Kamera hastig von den pittoresken Wäscheleinen über dem Kanal zurück auf die ­Stelle, wo der Tote im Wasser gelegen hatte. Der Blitz flackerte ein paar Mal auf, und dann fotografierte ich noch schnell das schöne eiserne Tor am Eingang zur Via Giuseppe Garibaldi.

      »Ich brauch eine Totale«, erklärte ich Zanetti in hoffentlich professionellem Ton, »Sie wissen schon. Gesamteindruck vom Platz des Geschehens und so.«

      Commissario Zanetti sah mir beeindruckt zu.

      »Die Katze da oben auf dem Fensterbrett ist auch wichtig?«, fragte er interessiert.

      »Das ist ein neues ganzheitliches Konzept der Polizeiarbeit bei uns in Nürnberg«, antwortete