Leila führt mich weiter zur Brasserie de la Goutte d’Or an der Ecke zur Rue des Gardes. Fred und Tristan, die mit ihren Bärten und Kappen genauso aussehen, wie man sich junge Craftbeer-Brauer vorstellt, brauen fünfhundert Hektoliter Bier pro Jahr, das man in einigen Pariser Lebensmittelläden sowie in ausgewählten Monoprix-Filialen zu kaufen bekommt. Ein wenig Hipsterflair liegt neben der hopfigen Note natürlich in der Luft, die beiden sind mit viel Lust und Einsatz bei der Sache. Auch sie lieben ihr Viertel und legen Wert auf den lokalen Charakter ihrer Biere, selbst wenn der Hopfen aus Flandern stammt: Für das vollmundige Aroma des belgisch inspirierten Triple-Biers sind Kaffeebohnen aus einer Rösterei in der Nähe verantwortlich, die Gewürze, die das fein aromatische Château-Rouge-Bier unverwechselbar machen, kommen aus dem nächsten Gewürzladen, und in Erinnerung an die Kohlenlager des alten Nordbahnhofs brauen sie ein Charbonnière-Bier mit getoastetem Malz, dessen rauchig-milde Note einfach ideal zum noch sehr kühlen Frühlingswetter passt.
Die Rue des Gardes ist eine Designer-Straße, hinter deren Auslagen zahlreiche Nähmaschinen surren – die Stadt Paris stellt hier Pariser Jungdesignern günstigen Arbeitsraum zur Verfügung, der im Rest der Stadt kaum aufzutreiben ist. In der Rue Cavé kommen wir am Echomusée vorbei. Vor vierundzwanzig Jahren hatte Museumsgründer Jean-Marc Bombeau die Vision, in dem ehemaligen Eckcafé mit Stuckdecke einen Raum zu schaffen, der die Kultur in den Alltag der Jugendlichen des Viertels bringt und in dem auch ihre Kultur – Hip-Hop und Streetart – Platz hat. Viel Engagement und Herzblut steckt in diesem Ort, Jean-Marc ist stolz auf „seine“ Kinder, die mittlerweile erfolgreiche Hip-Hopper sind oder ihre Fotos ausstellen. Jeden Mittwoch findet eine Jamsession statt, Poetry Slams und Hip-Hop-Konzerte stehen regelmäßig auf dem Programm.
Doch wo ist nun, nach so viel Kultur, Mode, Craft Beer und Design, das mythenumrankte afrikanische Barbès, das wahlweise als Projektionsfläche für Ängste oder exotische Fantasien dient? Gleich ums Eck. Die Rue Myrha ist wohl die afrikanischste Gasse der Hauptstadt. Wir biegen nach rechts und stehen nach wenigen Schritten vor der Ferme de Paris, in der es lebende Hühner zum Selberschlachten zu kaufen gibt. Fotos darf ich keine machen, aber hineinschauen: In einem Verschlag drängen sich verschiedenfarbige Hühner, ein paar Enten, einige Perlhühner. 18 Euro kostet ein normales Huhn, 33 Euro ein schwarzes – anscheinend ist es nicht nur schwerer, sondern auch ungleich besser. Genaueres will mir der Verkäufer nicht verraten. Wenige Meter weiter liegt die Weinhandlung La Cave de Don Doudine, in der Leila gern einkauft – die Weine stammen von Kleinproduzenten, vieles ist bio, und sogar eine „Goutte d’Or“-Cuvée kann man kaufen, gekeltert freilich nicht in Paris, sondern in der Touraine.
Leila schickt mich nun alleine weiter, da sie ihre Tochter von der Schule abholen muss, gibt mir aber noch ein paar empfehlenswerte Adressen mit auf den Weg. Vorbei an islamischen Buchhandlungen, afrikanischen Lebensmittel- und Stoffläden, finsteren Kaschemmen sowie topmodernen, in schmale Baulücken gesetzten Wohnhäusern spaziere ich in Richtung Rue des Poissonniers. Ich lasse mir Zeit, um die Atmosphäre der kontrastreichen Straße wirken zu lassen. Auffallend sind die vielen „Associations“, die entweder Nachhilfestunden oder kreative Freizeitaktivitäten für Kinder anbieten, den gemeinsamen Einkauf von Bio-Lebensmitteln organisieren oder gegen die Abrissbirne kämpfen, die das Viertel, dessen Altbauten oft in sehr schlechtem Zustand sind, gerade von Grund auf verändert. Es ist ein typischer Aspekt des Pariser Lebens, den viele Besucher übersehen: Die Bewohner dieser Stadt verbringen überdurchschnittlich viel Zeit damit, sich zu engagieren, ihr Wohnviertel zu verändern, sich für die Verbesserung ihrer Lebensqualität oder der ihrer Nachbarn einzusetzen. „Association“ heißt „Verein“, doch wo man bei uns an Sparer- oder Blasmusiktreffs denkt, geht es in Paris meist um soziale oder politische Anliegen. Vielleicht ist diese Bereitschaft zum Engagement über die eigenen Interessen hinaus ja ein Erbe der revolutionären Epochen der Stadt, deren aufmüpfige Einwohner den Königen beziehungsweise führenden Köpfen der Republik seit jeher eine Mischung aus Angst und Respekt einflößen. Die Stadt profitiert letztendlich enorm von der Zivilcourage und dem Willen zur Mitbestimmung ihrer Bevölkerung, auch wenn man nicht mit jeder Bürgerinitiative, jedem Streik und jeder Demo einverstanden sein muss. Auch die Goutte d’Or ist heute nicht zuletzt deswegen eines der spannendsten Viertel der Stadt, weil sich die Menschen, die hier wohnen, die Gestaltung nicht aus der Hand nehmen lassen wollen und sich mit viel Einsatz auch um diejenigen kümmern, die von der Gentrifizierung verdrängt zu werden drohen.
Die Rue des Poissonniers, in der ich nun lande, ist, unschwer zu erraten, die Verlängerung der Rue Montorgueil und der Rue Poissonnière. Außer dem Namen erinnert nichts an die Karren, die einst den „frischen“ Fang von der nahen Küste über Nacht in die Hauptstadt gebracht haben. Heute ist sie ein Stück Afrika, bunt und laut. Beim Marché Dejean in der gleichnamigen Straße packe ich den Fotoapparat ein: Hier sind viele „wilde“ Händler an der Arbeit, die nicht fotografiert werden wollen und darauf meistens wütend reagieren. Auf improvisierten Ständen aus Karton bieten sie zwischen den Lebensmittelhändlern gefälschte Markensonnenbrillen, Gürtel oder Uhren an. Sehenswert ist ihre Wegräumtechnik, wenn eine Gruppe Polizisten am Ende der Straße auftaucht: In Sekundenbruchteilen ist die Ware zusammengerafft, der Stand per Fußtritt abgebaut, der Händler verschwunden. Am Ende des Marktes gibt es Maniok zu kaufen, in Bananenblätter verpackt, Kräuter in Plastiksäcken, schwarze, für europäische Augen nicht gerade appetitlich aussehende getrocknete Seehechte. Ein ungewöhnliches Fisch-Einkaufserlebnis bietet ein Geschäft am Ende der Rue de Suez: Dort werden riesige „afrikanische“ Fische, die oft aus Asien kommen, tiefgefroren im Ganzen verkauft, man kann sie sich aber auch per Kreissäge in Scheiben schneiden lassen.
Die Rue Doudeauville ist eine weitere afrikanische Lebensader des Viertels, in der sich zahlreiche Stoffhändler und Schneider niedergelassen haben. Die bunten Baumwollstoffe, die viele Auslagen komplett füllen, heißen „Wax“ und werden in den Niederlanden hergestellt: ein Erbe des Kolonialismus, als die niederländischen Kolonialherren Soldaten aus Afrika in ihren asiatischen Besitzungen kämpfen ließen, wo diese die Technik, gebatikte Stoffe mit Wachs wasserabweisend zu machen, kennen- und schätzen lernten. Die Stoffe verbreiteten sich in der Folge im subsaharischen Afrika, die Muster vervielfältigten sich – wer sie zu „lesen“ versteht, für den sprechen die Gewänder aus Wax einmal mehr, dann wieder weniger subtile Botschaften aus, vom Stolz auf erreichten Wohlstand bis zur Warnung an den untreuen Ehemann, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Ein Händler an der Ecke zur Rue Léon erklärt mir einige der Muster, doch schon bei der nächsten bunten Auslage habe ich sie wieder durcheinandergebracht. Die Rue Léon ist weit über das Viertel hinaus bekannt, am Eck zur Rue Doudeauville liegt die beliebte L´Omadis-Bar, und an Wochenenden gibt es ein paar Schritte entfernt, im freundlichen Bistro Les Trois Frères, gratis Gemüse-Couscous zu essen, Gäste bezahlen nur die Getränke – was für ein volles Haus, studentisches Publikum und gute Stimmung sorgt. Ich gehe in der Rue Doudeauville weiter bis zum Centre des Cultures d’Islam, einem Islamzentrum, das nicht nur über eine Moschee verfügt, sondern auch Ausstellungen zeigt, wie derzeit eine sehenswerte Fotoausstellung über die Hamams von Tunis. Im Shop im Erdgeschoß kann man schöne baumwollene Hamam-Tücher, Massageöle, Arganseifen und ähnliche Souvenirs aus Nordafrika mitnehmen.
Rue Doudeauville „Wax“
Etwas weiter stadtauswärts, in der Rue Ordener, befindet sich das Café Lomi in einem schicken Neubau mit viel sichtbarem Stahl und Beton. Es weist eine hohe Laptop- und Hipsterbartdichte auf und gleicht an Nachmittagen einem Co-Working-Space für junge Kreative. Ohne Apple-Notebook fühlt man sich hier schnell als Außenseiter, der selbst geröstete Kaffee (der in der Brasserie weiter unten ins Triple-Malt-Bier kommt) und die Schokoladentarte