Das Wort „Zone“ hat im Französischen einen besonderen Klang, es bezeichnet mehr noch als den geografischen Raum ein Milieu der Gewalt, der Halb- und Unterwelt. Kaum noch jemand denkt daran, dass es aus der Zeit des Bürgerkönigs Louis Philippe I. stammt, der in den 1840er-Jahren den Bau eines Befestigungsrings um Paris beschloss. Dieser verlief in etwa entlang des nach verschiedenen Feldmarschällen benannten Boulevards, zu dessen Abschnitten der Boulevard Ney zählt. Bis zu 280 Meter außerhalb der Befestigungen erstreckte sich eine „Zone“, die nicht bebaut werden durfte.
Die Pariser frequentierten die Vorstädte außerhalb der neuen Mauern, die auch eine Zollgrenze darstellten, recht gern: Vieles war hier billiger, und der Weißwein, der in St. Ouen angebaut wurde, war sehr beliebt. Bald siedelten sich die ersten Gebrauchtwarenhändler mit ihren Ständen und Baracken in der „Zone“ an, wo sie genug Platz fanden, um ihre Fundstücke zu sortieren und zu reinigen. 1884 war ein hartes Jahr für die „Chiffoniers“, die Lumpensammler, die die Pariser Müllberge nach Brauchbarem durchwühlten. Ein Präfekt namens Poubelle verbot das Entsorgen von Müll auf der Straße und führte die Mülltonnen ein – das französische Wort für Mistkübel, poubelle, erinnert heute noch an den verdienstvollen Mann. Ob er sich über den zweifelhaften Ruhm gefreut hätte, ist eine andere Frage. Damals gab es 30 000 Lumpensammler in Paris, in St. Ouen waren sie am organisiertesten. Nachdem ihnen Monsieur Poubelle mit seinen Tonnen beinahe die Lebensgrundlage entzogen hatte, wurden sie unversehens durch eine Naturkatastrophe gerettet: Die Reblaus vernichtete die Weingärten von St. Ouen, die Gemeinde überließ ihnen die gesamte Zone, die man in Paris bald „Marché aux Puces“ zu nennen begann – der Begriff „Flohmarkt“ ging im späten neunzehnten Jahrhundert von hier aus um die Welt. 1920 begann ein gewisser Romain Vernaison damit, solide Marktstände anzulegen; dem heute noch bestehenden „Marché Vernaison“ folgten bald die nach ihren jeweiligen Eigentümern „Malik“ und „Biron“ genannten Märkte. Die Flohmärkte waren längst ein bedeutender Wirtschaftszweig geworden, die Vorstadtgemeinden stritten sich um die Gunst der gut organisierten Händler. Legenden um Sensationsfunde bedeutender Kunstwerke machten die Runde, tatsächlich beeinflussten die Flohmärkte ganze Kunststile wie die „art nègre“, die sich ohne die vielfältigen Anregungen, die sich Pariser Künstler auf dem Flohmarkt holten, niemals hätte entwickeln können.
Marché Vernaison
Auf dem Weg dorthin sollte man sich nicht ablenken lassen: Ein paar Meter hinter dem Boulevard Ney, nach einem Häuserblock voller Schuh-, Lederjacken- und Taschengeschäfte, beginnt ein erster „Flohmarkt“, der aber völlig uninteressant ist, eine Ansammlung von Ständen mit in China produziertem Ramsch und Textilien. Ich lasse diesen Markt rechts liegen. Erst nach der Ringautobahn Périphérique beginnt das eigentliche Vergnügen. Fotoapparat und Handy packe ich schon davor gut ein: Die Strecke, die unter dem Périph nach St. Ouen führt, wimmelt nur so von Schwarzhändlern, und bei manchen der dort diskret zum Kauf angebotenen Handys bin ich nicht sicher, ob ihr Vorbesitzer den Verlust überhaupt schon bemerkt hat.
Nun geht es los. „Der“ Flohmarkt von Saint-Ouen besteht aus einer Vielzahl kleinerer Märkte, die höchst unterschiedlich sind. Am „Marché Dauphine“ mit seinen Mini-Boutiquen gehe ich vorbei, ein paar Meter dahinter wartet rechter Hand der „Marché Vernaison“, der Älteste und für mich der Schönste, Verwirrendste und Authentischste der Märkte hier. Obwohl es kurz nach zehn Uhr ist, bin ich trotz gemütlichem Frühstück inklusive Hühnerstallbesichtigung früh dran, viele Stände sind erst am Aufsperren. Ich genieße diese menschenfreundliche Praxis in vollen Zügen – in Wien muss man angeblich um sechs Uhr morgens schon auf dem Flohmarkt sein, um die besten Stücke zu ergattern. Ich habe mir das zwar schon öfter vorgenommen, es dann aber doch nie geschafft, mich der Terrorherrschaft der Frühaufsteher anzupassen.
In St. Ouen kann man die Sache ungleich entspannter angehen. Ein bärtiger Händler mit Kapitänsjacke stellt gerade ein paar schöne Stücke vor seinem Stand namens Le doux logis auf, darunter ein hübsches Karussellpferd. Wir kommen ins Gespräch, merken nach ein paar Sätzen, dass wir beide keine Franzosen sind und sprechen auf Deutsch weiter: Oliver ist Deutscher und lebt seit 22 Jahren in Paris, eigentlich ist er Architekt. Schon als Jugendlicher hat er alte Schilder gesammelt, und auch sein Logo, „Le doux logis“, was man frei mit „Sweet Home“ übersetzen könnte, hat er einmal von einem längst geschlossenen Heimtextilienladen in seiner Nachbarschaft abgeschraubt und in den Keller geräumt, ohne zu wissen, was er damit anfangen sollte. Vor ein paar Jahren hat er dann beschlossen, aus seiner Sammelleidenschaft einen Beruf zu machen, und einen freien Stand in St. Ouen gekauft. Er schimpft etwas über die schwierigen Zeiten, weil die Leute angesichts der permanenten Krisen wenig Lust haben, Geld auszugeben, aber dieses Schimpfen könnte auch zur ganz normalen Pariser Folklore gehören. Ich begleite Oliver, der noch Wasser für seinen Kaffee holen muss, ein paar Schritte durch den Markt. Der Architekt, der damit beauftragt wurde, einen neuen Plan des Marktes zu zeichnen, geht mit einem anderen Blick durch die Stände als der Laie. Den Brandschutz findet er katastrophal, nicht von ungefähr sei in den 1960er-Jahren ein großer Teil des Marktes abgebrannt. Oliver urteilt streng, in den hübschen alten Buden sieht er nur morsches Holz unter zerknitterten Blechverkleidungen, die vom Rost zusammengehalten werden: „Mit Blech umwickelte Streichhölzer sind das!“ Noch mehr ärgert ihn das Kanalsystem, die Toiletten sind ständig verstopft, die Seifenspender brechen ab – und das bei einer nagelneuen Anlage … In meinen Ohren klingt seine Suada fast ein wenig zu pariserisch, oft sind Zuwanderer ja päpstlicher als der Papst beziehungsweise royalistischer als der König, wie man in Frankreich sagt.
Auf jeden Fall ist der Kaffee stark und heiß, eine Wohltat an diesem eiskalten Vormittag, an dem ein ständiges Lüftchen für zusätzliche Frische sorgt. Auch dafür ist St. Ouen bekannt. Oliver schimpft weiter wie ein Pariser Rohrspatz, er findet, dass viele seiner Kollegen sich nicht genug Mühe bei der Präsentation geben: „Schauen Sie sich das an, die Neonlampe ist für so einen Stand doch viel zu groß! Oder der hier, hat einen so schönen Kronleuchter und dann schraubt er Sparlampen rein, das verstehe ich einfach nicht.“ Er selbst legt großen Wert auf stimmige Beleuchtung und geschmackvolle Inszenierung seiner Ware, die er bei Wohnungsräumungen kauft, bei fliegenden Händlern in der Zone oder auch bei Kollegen, denen manche Stücke nicht ins sonstige Angebot passen. Schilder, Blechdosen oder Comic-Gläser aus seiner Sammlung bringt er oft in wenigen Minuten an den Kunden, dann ist der Stundenlohn gut – manchmal dauert alles viel länger, wie bei dem kleinen Spielzeugmuldenkipper, den ich zufällig in die Hand genommen habe. Zwei Stunden lang hat er bei einem auf altes Spielzeug spezialisierten Kollegen die Kiste mit den winzigen Ersatzteilen durchwühlt, damit der kleine Laster wieder auf vier halbwegs gleichen Reifen rollt. 15 Euro kostet er nun, das lohnt sich natürlich nicht. Ich lege das angesichts der darin steckenden Arbeit wertvolle Stück gleich wieder zurück, mein zweijähriger Sohn würde Olivers mühsame Sucherei wohl in wenigen Augenblicken zunichtemachen. Der zum „Pucier“ gewordene deutsche Architekt, der den Markt im Grunde leidenschaftlich liebt – „Wer heftig liebt, haut auch fest zu“, noch so ein französisches Sprichwort –, weiß viele Anekdoten vom Flohmarkt zu erzählen. Etwa von den Originalplänen des Kölner Doms, die im Jahr 1816 auf einem Pariser