Es ist weit und breit niemand zu sehen.
Ich steig also aus, um nachzusehen, da platzen mir die Augen auf, ich fass mir ins Gesicht, um sie auszukratzen, ich will nicht, dass mein Autoreifen Beine hat, dass er Füße hat, die neben dem Auto hervorragen, kleine, grüne Lederschühchen, nicht zugeschnürt, mit roten Kappen, einer Naht, die gleichmäßig verläuft wie ein winziger Mittelstreifen, die Kappen als Gipfelchen in den Himmel gereckt. Ich hatte noch nie so schöne Kinderschuhe gesehen, ich hatte mir überhaupt noch nie Kinderschuhe angesehen, ich hatte mir auch das Kind noch nicht angesehen.
Es läuft warm mein Gesicht herunter, dickflüssig, vielleicht ist es der Augensaft in dem die Iris schwimmt, oder schon das, was aus den leeren Höhlen aus dem Innern meines Kopfes rinnt, ich zerfließe und was da läuft, das brennt fürchterlich, als liefe es über das rohe Fleisch, Sehnen, Adern, die sich wie Würmer daran entlanghangeln, an die Knochen klammern und verhindern, dass das Gesicht ganz auseinanderfällt, die feine zivilisatorische Schicht, die es zusammenhielt, ihm einen gesitteten Ausdruck verlieh, muss aufgerissen sein und mir in Fetzen von den Schläfen hängen. Ein blutiges, glitschiges Monster beugt sich zu dem Kind herunter, das friedlich daliegt, der Länge nach ausgestreckt, nichts ist verdreht, als schliefe es, das Gesicht unversehrt. Gerade als ich meine Hand nach ihm ausstrecke, öffnet sich die Hand des Kindes und ein kleines Auto fällt daraus heraus auf den Asphalt und kullert unters Auto mit einem Scheppern, das sich bei jedem erneuten Aufprall auf dem Boden in meinen Ohren zu so einem massiven Krach verstärkt, als rieben sich die tektonischen Platten aneinander, ich erwarte jeden Augenblick, dass der Beton unter uns birst und der Erdriss mich und das Kind verschlingt, reflexartig werfe ich mich unters Auto, um das Spielzeugauto zu fassen, das Richtung Gulli rollt, während ich nach dem kleinen Rettungswagen greife, versuche ich zu begreifen, dass mir das passiert ist. Mir, der ich immer gepredigt hab, Unfälle passieren nicht, sie werden gemacht.
In meinem Kopf ist kein Platz für das Unbegreifliche, ich ertappe mich dabei, wie ich mich schon mit organisatorischen Fragen beschäftige, ich müsste in der Werkstatt anrufen, dass ich später käme, dass ich gar nicht käme, dass ich nie mehr käme, da schlägt das Kind die Augen auf:
- Auto –
Murmelt es, deutet scheu über sich, mein Puls beschleunigt mit mindestens 70 PS, mein Herz schlägt Purzelbäume –
- We-Bus?
Fragt es, da fällt mir der Krankenwagen ein, den ich noch fest in der zusammengekrampften Faust halte. Mir kommt es vor, als müsste ich Eisenstangen auseinanderbiegen, als ich die Finger zu öffnen versuche, ein wahres Jahrmarktkunststück wie ich die Hand aufkriege mit zusammengebissenen Zähnen, seht her, der stärkste Mann der Welt! Innen liegt glänzend vom Schweiß der winzige VW-Krankentransporter, den sich der kleine Junge mit einem scheuen, schnellen Handgriff schnappt.
- Theo dei.
- Was?
Redet der Englisch?
- Nein, nein, dir gehts gut. Alles gut –
- Theo dei. Dei –
Er zeigt es mit den Fingern.
- Ach drei. Ja, ein alter T3. Toll!
- Toll.
- Ja.
- Theo dei –
- Du? Du bist drei?
- Theo drei?
Theo zieht sich an der Stoßstange hoch, läuft unvermittelt los, als ob es ihn schwindelt, suchen die Hände nach zwei Schritten Halt, greifen ins Leere, dabei fällt ihm der kleine T3 erneut aus dem Händchen, landet mit einem Klack, klack, klack auf dem Asphalt, das nichts von dem ohrenbetäubenden Krach von vorhin hat. In der Luft tastend findet der Junge doch noch sein Gleichgewicht, der erschrockene Blick schwindet und weicht einem erwartungsfrohen Gesicht. Mit einem Zufriedenheitsseufzer läuft er dann, ohne sich noch einmal umzusehen, auf eine angelehnte Tür zu.
Es war immer noch zwanzig vor Sieben. Es war kaum eine Minute vergangen. Ich konnte einfach so in mein Leben zurückkehrn.
Als wär nichts passiert.
Chor der Darmbakterien II – Siegfrieds verletzliche Stelle
DAMRBAKTERIEN
Oho
Habt ihr gehört
Konntet ihr das hörn
Schwörn, Geschwister
Jetzt will er es mit uns beschwörn
Wie wir hier liegen
Auf dem Armaturenbrett
Auf das die Sonne brennt
In der Plastikröhre wie in einem gigantischen Riesensolarium
Mehr sind wir da drinnen, als Menschen drumrum auf dem Erdenrund
Ja, so viele von uns Bakterien sind in einem Gramm Stuhlgang
Vom Verhältnis der Zellen, aus denen ihr besteht
Seid ihr zu neunzig Prozent Mikrobe
Neunundneunzig Prozent davon im Darm
Und neunzig Prozent davon sind wir Bakterien
Insgesamt haben Ihre Darmbakterien 150 Mal mehr Gene als Sie!
Das heißt unsere Entschlüsselung
Die des Mikrobioms
Wird ein weitaus größeres Ding
Als die Entschlüsselung eures dagegen mickrigen Genoms
Jetzt habt ihr eine Vorstellung von unseren reichen Mikrobenkönigreichen
Den in euren Därmen errichteten Imperien
Der Familien der Bacteroiden, der Prevotellas und der Ruminococcus
Deren Thronfolger stolze Namen tragen
Bifidobacterium infantis oder Lactobacillus plantarum
Trotzdem glaubt ihr euch mächtig
Die Krönung der Schöpfung!
Nein, sie fühlen sich hilflos, verletzlich
Sie wärn gern wie Siegfried
Strahlender Held
Dem auf seinem Weg durch die Welt
Alles zufällt, völlig zufällig:
Das schärfste Schwert, der größte Schatz, die schönste Braut
Und durch das Bad im Blut des besiegten Drachen eine Haut
Hart wie Horn
Die ihn schützte
Vor jeder Schwertspitze
Jedem giftigen Dorn
Da es in ihrer Welt keine Drachen mehr gibt
Lebende, noch zu tötende
Bauen sie sich rauchende, rußende, Erdöl verbrennende
Metallene Drachen, deren Kraft sie in Pferdestärken messen
Und in deren Stahlschicht sie sich sicher wägen
Wie in einem Panzer aus Drachenblut
Dass die Sicherheit auch sicher ist
Und nicht nur eine Eventualität
Werden die Drachenwägen überwacht
Vom Technischen Überwachungsverein
Bestehen sie das regelmäßig von höchsten Amtswürden ausgerichtete
TÜV-Turnier mit Bravour
Bekommen sie eine Gravur auf die Stoßstange
Denn den Menschen heute ist bange
Am liebsten ließen sie sich alles
Alles, alles, alles
Abstempeln, beglaubigen, bescheinigen
Im Bemühen perfekt zu erscheinen
Makellos und unangreifbar
Sie sind