Siegfried simulieren. Nina Ender. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nina Ender
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961194834
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Glitzern.

      Es ist weit und breit niemand zu sehen.

      Ich steig also aus, um nachzusehen, da platzen mir die Augen auf, ich fass mir ins Gesicht, um sie auszukratzen, ich will nicht, dass mein Autoreifen Beine hat, dass er Füße hat, die neben dem Auto hervorragen, kleine, grüne Lederschühchen, nicht zugeschnürt, mit roten Kappen, einer Naht, die gleichmäßig verläuft wie ein winziger Mittelstreifen, die Kappen als Gipfelchen in den Himmel gereckt. Ich hatte noch nie so schöne Kinderschuhe gesehen, ich hatte mir überhaupt noch nie Kinderschuhe angesehen, ich hatte mir auch das Kind noch nicht angesehen.

      Es läuft warm mein Gesicht herunter, dickflüssig, vielleicht ist es der Augensaft in dem die Iris schwimmt, oder schon das, was aus den leeren Höhlen aus dem Innern meines Kopfes rinnt, ich zerfließe und was da läuft, das brennt fürchterlich, als liefe es über das rohe Fleisch, Sehnen, Adern, die sich wie Würmer daran entlanghangeln, an die Knochen klammern und verhindern, dass das Gesicht ganz auseinanderfällt, die feine zivilisatorische Schicht, die es zusammenhielt, ihm einen gesitteten Ausdruck verlieh, muss aufgerissen sein und mir in Fetzen von den Schläfen hängen. Ein blutiges, glitschiges Monster beugt sich zu dem Kind herunter, das friedlich daliegt, der Länge nach ausgestreckt, nichts ist verdreht, als schliefe es, das Gesicht unversehrt. Gerade als ich meine Hand nach ihm ausstrecke, öffnet sich die Hand des Kindes und ein kleines Auto fällt daraus heraus auf den Asphalt und kullert unters Auto mit einem Scheppern, das sich bei jedem erneuten Aufprall auf dem Boden in meinen Ohren zu so einem massiven Krach verstärkt, als rieben sich die tektonischen Platten aneinander, ich erwarte jeden Augenblick, dass der Beton unter uns birst und der Erdriss mich und das Kind verschlingt, reflexartig werfe ich mich unters Auto, um das Spielzeugauto zu fassen, das Richtung Gulli rollt, während ich nach dem kleinen Rettungswagen greife, versuche ich zu begreifen, dass mir das passiert ist. Mir, der ich immer gepredigt hab, Unfälle passieren nicht, sie werden gemacht.

      In meinem Kopf ist kein Platz für das Unbegreifliche, ich ertappe mich dabei, wie ich mich schon mit organisatorischen Fragen beschäftige, ich müsste in der Werkstatt anrufen, dass ich später käme, dass ich gar nicht käme, dass ich nie mehr käme, da schlägt das Kind die Augen auf:

      - Auto –

      Murmelt es, deutet scheu über sich, mein Puls beschleunigt mit mindestens 70 PS, mein Herz schlägt Purzelbäume –

      - We-Bus?

      Fragt es, da fällt mir der Krankenwagen ein, den ich noch fest in der zusammengekrampften Faust halte. Mir kommt es vor, als müsste ich Eisenstangen auseinanderbiegen, als ich die Finger zu öffnen versuche, ein wahres Jahrmarktkunststück wie ich die Hand aufkriege mit zusammengebissenen Zähnen, seht her, der stärkste Mann der Welt! Innen liegt glänzend vom Schweiß der winzige VW-Krankentransporter, den sich der kleine Junge mit einem scheuen, schnellen Handgriff schnappt.

      - Theo dei.

      - Was?

      Redet der Englisch?

      - Nein, nein, dir gehts gut. Alles gut –

      - Theo dei. Dei –

      Er zeigt es mit den Fingern.

      - Ach drei. Ja, ein alter T3. Toll!

      - Toll.

      - Ja.

      - Theo dei –

      - Du? Du bist drei?

      - Theo drei?

      Theo zieht sich an der Stoßstange hoch, läuft unvermittelt los, als ob es ihn schwindelt, suchen die Hände nach zwei Schritten Halt, greifen ins Leere, dabei fällt ihm der kleine T3 erneut aus dem Händchen, landet mit einem Klack, klack, klack auf dem Asphalt, das nichts von dem ohrenbetäubenden Krach von vorhin hat. In der Luft tastend findet der Junge doch noch sein Gleichgewicht, der erschrockene Blick schwindet und weicht einem erwartungsfrohen Gesicht. Mit einem Zufriedenheitsseufzer läuft er dann, ohne sich noch einmal umzusehen, auf eine angelehnte Tür zu.

      Es war immer noch zwanzig vor Sieben. Es war kaum eine Minute vergangen. Ich konnte einfach so in mein Leben zurückkehrn.

      Als wär nichts passiert.

      DAMRBAKTERIEN

      Oho

      Habt ihr gehört

      Konntet ihr das hörn

      Schwörn, Geschwister

      Jetzt will er es mit uns beschwörn

      Wie wir hier liegen

      Auf dem Armaturenbrett

      Auf das die Sonne brennt

      In der Plastikröhre wie in einem gigantischen Riesensolarium

      Mehr sind wir da drinnen, als Menschen drumrum auf dem Erdenrund

      Ja, so viele von uns Bakterien sind in einem Gramm Stuhlgang

      Vom Verhältnis der Zellen, aus denen ihr besteht

      Seid ihr zu neunzig Prozent Mikrobe

      Neunundneunzig Prozent davon im Darm

      Und neunzig Prozent davon sind wir Bakterien

      Insgesamt haben Ihre Darmbakterien 150 Mal mehr Gene als Sie!

      Das heißt unsere Entschlüsselung

      Die des Mikrobioms

      Wird ein weitaus größeres Ding

      Als die Entschlüsselung eures dagegen mickrigen Genoms

      Jetzt habt ihr eine Vorstellung von unseren reichen Mikrobenkönigreichen

      Den in euren Därmen errichteten Imperien

      Der Familien der Bacteroiden, der Prevotellas und der Ruminococcus

      Deren Thronfolger stolze Namen tragen

      Bifidobacterium infantis oder Lactobacillus plantarum

      Trotzdem glaubt ihr euch mächtig

      Die Krönung der Schöpfung!

      Nein, sie fühlen sich hilflos, verletzlich

      Sie wärn gern wie Siegfried

      Strahlender Held

      Dem auf seinem Weg durch die Welt

      Alles zufällt, völlig zufällig:

      Das schärfste Schwert, der größte Schatz, die schönste Braut

      Und durch das Bad im Blut des besiegten Drachen eine Haut

      Hart wie Horn

      Die ihn schützte

      Vor jeder Schwertspitze

      Jedem giftigen Dorn

      Da es in ihrer Welt keine Drachen mehr gibt

      Lebende, noch zu tötende

      Bauen sie sich rauchende, rußende, Erdöl verbrennende

      Metallene Drachen, deren Kraft sie in Pferdestärken messen

      Und in deren Stahlschicht sie sich sicher wägen

      Wie in einem Panzer aus Drachenblut

      Dass die Sicherheit auch sicher ist

      Und nicht nur eine Eventualität

      Werden die Drachenwägen überwacht

      Vom Technischen Überwachungsverein

      Bestehen sie das regelmäßig von höchsten Amtswürden ausgerichtete

      TÜV-Turnier mit Bravour

      Bekommen sie eine Gravur auf die Stoßstange

      Denn den Menschen heute ist bange

      Am liebsten ließen sie sich alles

      Alles, alles, alles

      Abstempeln, beglaubigen, bescheinigen

      Im Bemühen perfekt zu erscheinen

      Makellos und unangreifbar

      Sie sind