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Ihr Sohn Jörg kam zu Besuch, und Inge war wie immer hocherfreut. Sie liebte ihre Kinder, und für sie war es jedes Mal ein ganz großes Glück, wenn sie sie besuchten.
Jörg, der derzeit in Stockholm lebte, kam meistens nur auf einen Sprung für ein paar Stunden vorbei, und Inge konnte ihr Glück nicht fassen, wenn er hier und da einmal sogar über Nacht blieb.
Sie war mehr als erstaunt, als Jörg sich plötzlich erkundigte: »Mama, kann ich für ein paar Tage bleiben?«
Inge fiel beinahe der Kaffeebecher aus der Hand.
Welche Frage.
»Aber natürlich, mein Junge, du kannst bleiben, solange du willst. Ich freue mich. Seit du in Stockholm lebst, waren es nur kurze Stippvisiten. Glaubst du, dass die Verhandlungen mit den ehemaligen Münsterwerken sich tagelang hinziehen werden?«, erkundigte Inge sich.
»Nö, Mama, das mit den Münsterwerken ist für uns endgültig passé. Wir haben die Verhandlungen abgebrochen, und was letztlich jetzt geschieht, das interessiert uns nicht mehr. Jetzt sind die Werke endgültig gegen die Wand gefahren worden, und auch wenn man jetzt alles für einen Appel und Ei haben kann, wie man so schön sagt, hat das für uns keinerlei Bedeutung. Der Imageverlust ist einfach zu groß. Wir wollten zu einem guten Preis kaufen, als der Ruf noch nicht ruiniert war. Was für ein Glück, dass Felix Münster das alles nicht mehr mitbekommt. Er hat aus der väterlichen Firma ein Unternehmen von Weltruf gemacht, und das haben diese neuen Möchtegernunternehmer zerstört. Aber lass uns bitte nicht mehr darüber reden. Das, was dort geschehen ist und noch geschieht, ist schließlich kein Einzelfall. Mit den Leuten an der Spitze steht und fällt ein Unternehmen. Ich habe keine geschäftlichen Verpflichtungen, ich will einfach nur ein paar Tage Urlaub machen, mit dir, Papa, Pamela und den Großeltern reden, unsere Ricky besuchen, dann will ich viel unterwegs sein, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Ich brauche einfach mal Ruhe, und unser Sonnenwinkel, vor allem unser herrlicher Sternsee, bieten sich an, mal die Seele baumeln zu lassen. Unser Hannes braucht den Jakobsweg, um zu sich zu finden. Ich gebe mich mit unserem See zufrieden.«
Bei Inge gingen urplötzlich alle Alarmglocken an.
Das war neu an Jörg, solche Worte kannte sie nicht von ihrem Sohn. Jörg war jemand, der Herausforderungen liebte, der immer auf der Überholspur war.
Und jetzt zu sich finden …
Sie blickte ihn an, als habe sie ihn jetzt gerade erst zum ersten Mal seit seiner Ankunft gesehen. Vielleicht war es ja auch so, wenn man das Wörtchen ›richtig‹ hinzufügte.
Vorher war sie eigentlich nur entzückt gewesen, überglücklich, Jörg unverhofft in die Arme schließen zu können.
»Jörg, bist du krank?«, erkundigte sie sich angstvoll mit zitternder Stimme.
Er blickte seine Mutter an, mit einem geradezu waidwunden Blick, dann zuckte er die Achseln.
»Krank?«, wiederholte er. »Nun ja, in gewisser Weise schon.«
Welch ein Glück, dass Inge mit ihrem Sohn an dem großen Familientisch saß, sonst hätten ihr in diesem Augenblick die Beine den Dienst versagt.
Was hatte das denn zu bedeuten? So kannte sie Jörg nicht. Der klang ja irgendwie erloschen. Hatte es ihn eingeholt, weil Stella ihn und die Kinder verlassen hatte, mit ihnen und einem anderen Mann nach Brasilien gegangen war? Inge wusste, dass die Scheidung der beiden inzwischen rechtskräftig war. Das war etwas, was die Endgültigkeit, das endgültige Aus einer Ehe bedeutete. Und daran hatte man schon zu knapsen, besonders dann, wenn die Familie das Ein und Alles gewesen war. Jörg liebte seine Kinder, und wie sehr musste es ihn schmerzen, dass sie jetzt, so weit von ihm entfernt, bei einem anderen Mann aufwuchsen. Er hatte, um die Kinder nicht in einen Zwiespalt zu bringen, aus Liebe und aus Fürsorge auf das Sorgerecht verzichtet. Wie sollte das denn auch zu praktizieren sein? Schweden und Brasilien, das lag nicht gerade um die Ecke, da konnte man keine wöchentlichen, nicht einmal monatliche Besuchsrechte regeln. Sie standen in Verbindung miteinander, skypten, schrieben, telefonierten. Sie nutzten alle sich bietenden Möglichkeiten. Doch Jörg hatte bereits bei seinem letzten Besuch gesagt, dass es immer weniger wurde, dass sie, trotz vereinbarter Zeit, anderweitig beschäftigt waren. Ob sie dahintersteckten, oder ob Stella daran drehte, das konnte niemand sagen.
Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis Jörg seinen Schmerz überwunden hatte, und Inge wünschte so sehr, dass die Zeit die Wunden heilte, wie man immer so schön sagte.
Auf jeden Fall war es gut, dass ihr Jörg wieder eine Frau an seiner Seite hatte, die unglaubliche, die sehr sympathische Charlotte. Und Inge hatte sich längst damit abgefunden, dass die beiden sich im Internet kennengelernt hatten. So sollten ein viel beschäftigter Manager und eine ebenfalls viel beschäftigte Handchirurgin denn sonst kennenlernen? Menschen, die von ihrer Arbeit mehr oder weniger aufgefressen wurden. Die gingen nicht mal spazieren, setzten sich in ein Café oder besuchten eine Veranstaltung und hielten nach einem Partner oder einer Partnerin Ausschau.
Ja, Charlotte war ein Glücksfall in seinem Leben, und aus diesen Gedanken heraus sagte Inge auch: »Jörg, es ist gut, dass du Charlotte an deiner Seite hast. Was immer dich jetzt auch bedrückt, was immer dir auch fehlt. Gemeinsam schafft ihr alles.«
Jörg antwortete nicht sofort, und das wunderte Inge ein wenig, denn normalerweise begann er von seiner Charlotte zu schwärmen, wenn man die nur erwähnte.
Ein wenig verunsichert blickte Inge ihren Sohn an, und da platzte es aus ihm heraus: »Mama, ich habe mich von Charlotte getrennt.«
Was vorhin beinahe passiert wäre, jetzt geschah es. Inge fiel der Kaffeebecher aus der Hand, der Kaffee breitete sich im Nu auf dem schönen alten Tisch aus.
Inge sprang auf, holte ein Tuch, beseitigte mechanisch das Malheur, während ihre Gedanken sich überschlugen.
Was hatte Jörg da gerade gesagt?
Er hatte sich von Charlotte getrennt?
Sie musste sich verhört haben, so etwas ging doch überhaupt nicht. Das mit Charlotte und Jörg war Harmonie pur, die beiden passten viel besser zusammen als Jörg und Stella.
Inge war vollkommen durcheinander, sie setzte sich wieder hin, hielt das Tuch, mit dem sie den Kaffee aufgewischt hatte, noch immer in der Hand, ohne dass es ihr bewusst war.
Sie blickte vorsichtig ihren Sohn an. Dessen Gesicht schien noch blasser geworden zu sein, um seinen Mund lag ein schmerzerfüllter Zug, sein Blick wirkte erloschen. Er litt. Und nun verstand Inge überhaupt nichts mehr. Er hatte doch gesagt, dass er sich getrennt hatte. Das tat man doch nicht, wenn es Schmerz bereitete.
»Jörg …, ich verstehe nicht …, bitte erkläre mir, was geschehen ist, mein Junge.«
Es dauerte noch eine Weile, ehe Jörg zu seiner Mutter sprach, und seine Stimme war dabei ganz leise.
»Mama, ich habe Charlotte sehr geliebt, ich liebe sie noch immer. Doch ich kann mit ihr nicht zusammen sein. Wie du weißt, hat sie einen zehnjährigen Sohn, Sven, den sie über alles liebt. Er ist auch ein sehr netter Junge, und unter normalen Umständen …« Er brach seinen Satz ab, sein Blick verlor sich im Leeren.
Inge wagte kaum zu atmen, und ehe er weitersprach, ahnte sie die Tragödie.
Klar, Charlotte hatte einen Sohn, der zwar im Internat war, den sie jedoch traf, so oft es nur möglich war. Und da sie und Jörg jetzt ein Paar waren, war es unausweichlich, dass auch Jörg immer wieder auf Sven traf. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was das für ihn bedeutete.
Durch Sven wurde er immer wieder an seine eigenen Kinder erinnert, die er sehr geliebt, doch die er jetzt verloren hatte.
»Mama, Sven kann nichts dafür, er ist wirklich sehr, sehr nett. Und gäbe es nicht die Last meiner Vergangenheit, wären wir auf Dauer prima klargekommen …, ich habe mich bemüht, ich habe versucht,