Stella war seine Vergangenheit, seine Gegenwart war gerade unerträglich, und seine Zukunft … Ja, er war sich sehr, sehr sicher, die sollte Charlotte gehören, und er würde alles daransetzen, zu Sven, deren Sohn, ein gutes, vorbehaltloses Verhältnis zu bekommen.
Aus diesen Gedanken heraus sagte er: »Papa, ich fliege morgen nach Schweden zurück, und ich will alles daransetzen, mich mit Charlotte zu versöhnen.«
»Das ist großartig, mein Junge«, rief der Professor ganz spontan. »Charlotte ist eine so großartige Frau, und ich finde, ihr passt so gut zueinander.«
Am liebsten hätte Jörg sich jetzt bei seinem Vater erkundigt, ob er von Charlotte als Mensch begeistert war oder ob es ihn faszinierte, dass sie eine so erfolgreiche Handchirurgin war. Er ließ es bleiben. Was sollte es, er wollte an seinem letzten Tag keinen Streit haben, und seinen Vater konnte man eh nicht mehr ändern. Er war wie er war. Und so schlimm war er ja nun auch nicht, denn seine Familie war ihm sehr wichtig. Und darauf kommt es an.
»Ich würde euch, natürlich unsere Pamela und die Großeltern zum Abschied gern in den ›Seeblick‹ einladen. Wie ich Mama kenne, würde sie sonst jetzt alle Hebel in Bewegung setzen, um ein mehrgängiges Menü auf den Tisch zu zaubern.«
Jörg wandte sich seiner Mutter zu. »Mama, du hast großartig für mich gesorgt, du hast mich, ohne viele Worte zu machen, aufgefangen. Das Essen im ›Seeblick‹ soll auch so etwas wie ein kleines Dankeschön sein.«
Inge hatte Tränen in den Augen, als sie ihm bewegt antwortete:
»Jörg, mein Junge, ich freue mich. Wir gehen alle sehr gern in den Seeblick.«
Sie wandten sich anderen Themen zu. Und das war auch etwas, was alle Auerbachs gemeinsam hatten, sie waren an allem interessiert, und sie unterhielten sich gern.
Wofür ein großer, alter Familientisch nicht wundervoll war.
*
Roberta wurde mitten in der Nacht wach. Sie schreckte hoch, weil etwas sie berührte. Doch ehe sie die Nachttischlampe anknipsten konnte, hörte sie ein weinerliches Kinderstimmchen.
»Ich habe schlecht geträumt, darf ich zu dir ins Bett kommen?«
Es war der kleine Philip. Seit er da war, brannte zwar im Haus überall eine Notbeleuchtung, doch es wunderte Roberta schon, dass er nicht geweint hatte, sondern zu ihr gekommen war. Das bedeutete auf jeden Fall, dass er sich mittlerweile nicht nur im Haus auskannte, sondern dass er angstfrei war und sich wohlfühlte.
»Natürlich, mein Schatz«, rief Roberta und rückte bereitwillig beiseite. »Warum hast du denn nicht gerufen? Alma oder ich hätten dich gewiss gehört und wären sofort zu dir gekommen.«
Philip kuschelte sich an sie, und für Roberta war es unglaublich schön, diesen kleinen, warmen Kinderkörper zu spüren.
»Ich möchte aber lieber in deinem Bett mit dir schlafen, weil ich weiß, dass die bösen Träume nicht zu dir kommen. Sie haben Angst vor dir, weil sie wissen, dass du eine Ärztin bist und mit allem fertig wird, auch mit Träumen.«
Na, wenn das kein Kompliment war!
Gerührt drückte Roberta den kleinen Philip an sich, strich ihm liebevoll über das strubbelige Haar.
»Ich werde alle bösen Träume verjagen, mein Herz, du kannst jetzt ganz ruhig weiterschlafen. Denn wenn du jetzt die Augen zumachst, dann kommen nämlich die guten, die bunten Träume bei dir vorbei.«
Sie hatte es nur dahergesagt, weil sie Angst hatte, er könne auf die Idee kommen, etwas vorgelesen haben zu wollen. Darauf hatte sie keine Lust, doch sie kannte mittlerweile erkannt, dass Philip für jede Überraschung gut war.
Sie hatte ins Schwarze getroffen, der Gedanke gefiel ihm, und ehe er die Augen schloss, erkundigte er sich rasch: »Und kommen auch blaue Träumchen?«
»Ja, Philip, sie kommen in allen Farben, die du haben möchtest. Das ist ja das besondere an Träumen.«
»Dann nehme ich auch noch gelb und grün«, murmelte er, und danach dauerte es nicht lange, und er war wieder eingeschlafen.
Roberta ließ ihn los, und dann musste sie sich ganz an den Rand des Bettes quetschen, denn Philip hatte es sich gemütlich gemacht, und mit ausgebreiteten Armen und Beinen schlief er wieder tief und fest. Im Gegensatz zu Roberta. Die war jetzt hellwach, und viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
Es war so bereichernd, den kleinen Philip im Haus zu haben, solange seine Mutter in Amerika war. Doch sie hatte auch längst schon festgestellt, dass ein Kind im Hause zu haben kein Spaziergang durch einen Rosengarten war. Es bedeutete nicht nur eine große Verantwortung, sondern ein Kind beanspruchte sehr viel Zeit. Dabei war der kleine Philip aus dem Gröbsten heraus, und er war für sein Alter sehr selbstständig, was wohl auch nicht ausblieb, wenn man bei einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs.
Roberta wollte Philip nicht eine Sekunde missen, und sie mochte nicht daran denken, wie ihr Leben wieder ohne ihn sein würde. Und die Zeit der Trennung würde bald kommen, es war von Anfang an ein Glück auf Zeit gewesen.
Auf jeden Fall hatte Roberta keine Illusionen mehr, und der Gedanke, dass Beruf und Kind mit linker Hand vereinbar sei, den gab es nicht mehr. Sie war zu blauäugig gewesen, und sie konnte sich jetzt nicht mehr verstehen, warum sie so besessen davon gewesen war, Lars unbedingt nicht nur heiraten zu wollen, sondern sie hatte von einer Kinderschar mit ihm geträumt und ihn damit haltlos überfordert. Das wusste sie jetzt.
Warum hatte sie es nicht einfach darauf ankommen lassen? Sie waren so glücklich miteinander gewesen, er war ihr Mr Right, und er war sehr, sehr offen gewesen, hatte ihr niemals etwas vorgemacht. Sie hatte mit ihren Wünschen immer wieder die Grenze überschritten, was ihn panisch gemacht hatte.
Lars zog es immer wieder in die Ferne, damit hatte sie sich abgefunden, doch jetzt die mehrmonatige Beziehungsauszeit, die machte ihr sehr zu schaffen.
Lars fehlte ihr.
Roberta vermisste ihn.
Und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie auf die Zeilen, die sie ihm trotz der vereinbarten Auszeit geschickt hatte, eine Antwort erwartet. Es war nichts gekommen, und was sie am meisten beunruhigt war, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Sein Handy war ausgestellt. Das hatte sie mehrfach erfahren, denn sie hatte ihren Stolz überwunden. Sie hatte angerufen, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn vermisste, wie sehr er ihr fehlte. Und da das Handy ausgestellt war, konnte sie ihm auch nicht schreiben.
Tief in ihrem Herzen nistete sich Angst ein, die sie tapfer zu bekämpfen versuchte, denn mit negativen Gedanken führte man negative Ergebnisse herbei.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Und wenn Lars nun etwas passiert war?
Dieser Gedanke war unerträglich, sie versuchte, dieses Gedankenkarussell abzustellen. Lars befand sich nicht in gefährlichen Gefilden. Sie hätte Angst haben müssen, als er im tiefsten Eis bei den Eisbären gewesen war.
Aber wo war er?
Nicht einmal das wusste sie, und bei Lars konnte sich sehr schnell etwas ändern.
Der kleine Philip machte sich immer breiter, jetzt lag er fast quer im Bett. Roberta traute sich nicht, ihn wieder richtig hinzulegen, aus Angst, sie könne ihn aufwecken. Das wollte sie nicht.
Sie stand vorsichtig auf. Schlafen konnte sie eh nicht mehr, ihre Angst um Lars wurde immer größer, und der konnte sie