Träume waren nicht die Realität, sie zerplatzten in der Regel.
Ehe er sein Gepäck ins Auto trug, und dabei wurde er von niemandem beachtet, weil alle Leute ringsum anderweitig beschäftigt waren, schrieb er seinem Chef, dass er kommen würde. Und mit allem Weh in seinem Herzen fühlte es sich richtig an.
Liebe bedeutete Zweisamkeit, da durfte nicht einer auf der Strecke bleiben.
Er verabschiedete sich nicht von Julia, sie würde seinen Abschiedsbrief vorfinden, und er konnte nur hoffen, dass sie ihn ein wenig verstehen konnte.
Er fuhr langsam vom Parkplatz herunter, langsam auf den Weg, der ihn immer weiter vom ›Seeblick‹ entfernte.
Noch konnte er zurück!
Noch war nichts passiert. Er könnte so tun als sei nichts geschehen, den Brief in tausend Fetzen zerreißen.
Und dann?
Dann würde sich nichts ändern.
Er konnte Julia keinen Vorwurf daraus machen, dass sie nicht den Platz an seiner Seite eingenommen hatte, den er für sie reserviert hatte.
Er musste sich keinen Vorwurf machen, er hatte sich bemüht, war mit ihr sogar in der halben Nacht in den Großmarkt gefahren, er hatte sich nicht nur bemüht, ihr Leben zu verstehen, sondern er hatte auch daran teilnehmen wollen. Es hatte nichts gebracht.
Er hatte sie geliebt, er liebte sie noch immer, und er würde sie immer lieben. Manche Liebe war halt nicht alltagstauglich. Er wünschte ihr von ganzem Herzen all das, was sie für sich erstrebte. Sie war großartig. Ja, das war sie …, es hätte etwas werden können. Wann war sie zurückgeblieben? Er konnte es nicht sagen. Und es kam ja auch überhaupt nicht darauf an, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es war vorbei …
Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, und vermutlich stieg im Augenblick auch sein Blutdruck in eine gigantische Höhe. Es würde sich ändern, das würde er schon in den Griff bekommen.
Aber das mit der zerbrochenen Liebe …, das würde dauern.
*
Im ›Seeblick‹ boxte derzeit wirklich, wie man so schön und treffend sagte, der Bär. Die Vorbereitungen für das Fest liefen auf Hochtouren, alles nahm immer mehr Formen an, und es versprach, ein unvergleichliches Fest zu werden.
Und im Restaurant schienen sich alle Gäste auf einmal verabredet zu haben, und es kamen auch welche, die Julia bereits eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte.
Es war eine große Herausforderung, doch wenn sie ehrlich war, gerade in solchen Situationen lief sie zu Hochtouren auf.
Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, ging sie hinauf in die Wohnung.
Der arme Daniel …
Sie bekam ein schlechtes Gewissen, der hatte in letzter Zeit wirklich nicht viel von ihr.
Ehe Julia die Wohnung betrat, wurde sie auf einmal von einem merkwürdigen Gefühl beschlichen, ihr Herz klopfte, da war etwas, für das sie keine Erklärung hatte.
Sie stieß die Tür auf, es brannte kein Licht.
Hatte Daniel sich schon ins Bett gelegt? Das wäre ungewöhnlich. Er war eine Nachteule, außerdem wartete er immer auf sie, um wenigstens eine kurze Zeit mit ihr zu verbringen.
»Daniel?«
Er erfolgte keine Antwort.
Sie spürte, wie sie feuchte Hände bekam.
»Daniel?«
Wieder nichts.
Julia machte sich auf die Suche, von Daniel gab es keine Spur. Sie stieß die Schlafzimmertür auf, machte Licht, blieb wie angewurzelt stehen.
Die Schranktüren standen auf, Schubladen waren herausgezogen worden.
Da, wo Daniels Sachen gehangen oder gelegen hatten, gab es gähnende Leere.
Es dauerte eine Weile, ehe Julia realisiert hatte, was das bedeutete.
Daniel war weg.
Sie wankte zum Bett, setzte sich auf die Bettkante, und dann entdeckte sie den Brief, der mitten auf dem Bett lag. Sie erkannte sofort seine ausgeprägte, männliche Handschrift.
Sie starrte den Umschlag an, auf dem ihr Name stand, und sie war nicht in der Lage, nach dem Brief zu greifen, um ihn zu lesen.
Ihre Gedanken überschlugen sich.
Daniel war weg, das konnte sie immer nur denken. Sie war müde gewesen, als sie nach oben gekommen war, jetzt war sie hellwach.
Julia hatte das Gefühl, dass ihre Gedanken sich überschlugen, doch sie nahm nichts davon wahr, verspürte vielmehr eine große Leere, die sich überall ausbreitete und an ihr hochkroch, sie frösteln ließ.
Sie hatte sich nicht genügend um ihn gekümmert, sie hatte ihn nicht in das, was sie tat, einbezogen. Doch das interessierte ihn doch überhaupt nicht, vieles hatte er ihretwegen getan.
Immerhin hatte er das. Und sie?
Es war nicht der Augenblick für Schuldzuweisungen. Sie griff nach dem Briefumschlag, ihre Hand zitterte stark, als sie das eng beschriebene Blatt herauszog, und sie war so aufgeregt, dass zunächst einmal alle Buchstaben vor ihr verschwammen.
Meine Liebste, das bist Du, wirst es für immer für mich bleiben, und ich bereue keine Sekunde der mit Dir verbrachten Zeit. Mittlerweile habe ich jedoch eingesehen, dass wir unterschiedliche Lebenskonzepte haben, die uns immer weiter voneinander entfernen. Ich möchte meine Liebe zu Dir in meinem Herzen bewahren, glutvoll und schön. Ich möchte nicht abwarten, bis nur noch ein Häufchen Asche zurückbleibt.
Julia, Du bist eine wundervolle Frau, danke für die Zeit, die ich mit Dir haben durfte. Dafür werde ich Dir wirklich immer dankbar sein.
Pass auf Dich auf, in Liebe, Dein Daniel.
Er war für immer gegangen, und sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie die Anzeichen nicht bemerkt hatte, dass sie die nicht hatte sehen wollen, denn sie waren da und unübersehbar gewesen.
Daniel hatte selbstlos sein altes, sein erfolgreiches Leben aufgegeben, um mit ihr gemeinsam in ein neues zu starten.
Und sie?
Sie hatte sich darüber gefreut, sie hatte es als eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Sie war glücklich gewesen, seine Liebe hatte ihr Selbstbewusstsein gestärkt, sie hatte sich sehr wohlgefühlt bei dem Gedanken, beides zu haben, ein sehr gut florierendes Restaurant, und den Mann an ihrer Seite, den sie liebte, der sie liebte mit der ganzen Kraft seines Herzens.
Sie hatte an sich gedacht, an ihre eigene Befindlichkeit, doch sie hatte keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie es wohl in ihm aussah, wie er sich fühlte. Dabei war er es allein gewesen, der Opfer gebracht hatte.
Liebe war kein Selbstbedienungsladen, in dem sich einer allein das holte, was er mochte.
Liebe war ein ständiges Geben und Nehmen. Julia schämte sich so sehr, als ihr bewusst wurde, dass sie immer nur genommen hatte.
Sie stand auf, holte ihr Handy, versuchte, ihn anzurufen.
Er durfte nicht gehen, sie liebte und sie brauchte ihn doch.
Er meldete sich nicht, stattdessen kam die unverbindliche Durchsage: »Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar.«
Er wollte nicht mit ihr reden, er hatte sie aus seinem Leben gestrichen, weil sie ihn überfordert hatte.
Ihr fiel ein, dass er immer wieder versucht hatte, mit ihr zu reden. Und sie hatte ihn immer wieder abgewimmelt.
Oh Gott!
Wie