Adrienne würde nicht ewig schlafen, und wenn die sich meldete, war es erst einmal mit der Ruhe vorbei. Roberta räusperte sich, sofort ruckten die Kopfe der beiden anderen Frauen hoch.
»Paula, es tut mir leid, aber wir müssen reden. Am besten stelle ich Ihnen keine Fragen, sondern Sie erzählen uns alles. Doch eines möchte ich wissen. Wieso haben Sie Adrienne ausgerechnet vor meine Haustür gelegt? Ich habe Sie zuvor noch nie im Sonnenwinkel gesehen, also nehme ich auch an, dass Sie nicht hier wohnen?«
Ein Kopfschütteln war die Antwort. Paula richtete sich ein wenig auf, blickte Roberta an, dann sagte sie mit leiser, beinahe verzagt klingender Stimme: »Ich … ich wusste durch Babette Cremer von Ihnen.« Als sie Robertas erstaunten Blick bemerkte, fuhr Paula fort: »Ich kenne Babette seit meiner Jugendzeit, sie … sie hat mir von ihren Schwierigkeiten erzählt, von ihren Eltern, die wollten, dass Babette das Baby … nicht bekommt, abtreiben lässt. Sie haben Babette unterstützt. Immerhin hat sie nicht nur ihr Baby bekommen, sondern auch ihren Jost geheiratet. Sie sind eine glückliche Familie.«
Babette!
Natürlich konnte Roberta sich sofort an das junge Mädchen erinnern, das ziemlich verzweifelt gewesen war. Ja, sie hatte Babette geholfen und sich dadurch ziemlichen Ärger mit den Eltern eingehandelt.
»Und Sie haben auch Ärger mit Ihren Eltern, Paula?«, wollte Roberta wissen. »Doch Sie haben immerhin Ihr Baby auf die Welt gebracht. Doch was ist dann geschehen? Warum haben Sie Adrienne vor meine Tür gelegt?«
Es erfolgte eine Pause, Paula hing ihren Gedanken nach, sie warf einen Blick zum Stubenwagen, schaute Alma und Roberta an.
»Ich wusste mir keinen Rat, sah keinen Ausweg. Doch von Babette wusste ich ja, was für ein guter Mensch Sie sind. Ich wusste, dass meinem Baby nichts passieren kann.«
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Paula in der Lage war, ihre Geschichte zu erzählen.
Sie hatte gerade ihr Abitur gemacht, gejobbt bis zum Beginn ihres Studiums der Philosophie, als sie Adrian Courbet kennengelernt hatte, einen jungen Assistenzarzt, der einige Zeit im neuen Herzzentrum des Hohenborner Krankenhauses verbringen wollte. Es kam, wie es kommen musste, sie hatten sich ineinander verliebt. Doch dann hatte Adrian ein Jobangebot aus Lyon bekommen, hatte seine Zelte in Hohenborn abgebrochen. Und als er weg war, hatte Paula bemerkt, dass sie schwanger war.
»Ich hatte nicht damit gerechnet«, sagte Paula mit bebender Stimme, »aber es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen …, ich hatte mir allerdings alles auch einfacher vorgestellt. In dem Supermarkt hatte ich nur einen befristeten Arbeitsvertrag, meine Vermieterin durfte auch nichts davon erfahren, sonst hätte sie mir das Appartement gekündigt. Also habe ich versucht, die Schwangerschaft so gut es ging zu kaschieren. Das ist mir auch gelungen, alle dachten, ich habe zugenommen.«
»Und dieser Adrian?«, wollte Alma wissen, und das war auch eine sehr berechtigte Frage.
»Der weiß von nichts. Ich wollte ihn nicht belasten, denn er stand am Anfang seiner Karriere als Herzchirurg. Er hat immer gesagt, dass er sich eine Familiengründung erst viel später vorstellen kann, wenn ich mein Studium abgeschlossen habe und er Facharzt für Chirurgie geworden ist.«
Roberta und Alma schauten sich an.
»Paula, Sie haben es allein durchgezogen?«, erkundigte Alma sich ganz ungläubig. »Auch … auch die Geburt?«
Paula nickte.
»Und die ganzen Vorsorgeuntersuchungen?«, wollte Roberta wissen.
»Die habe ich machen lassen, aber nicht in Hohenborn. Es war schwieriger als gedacht, und ich hatte eine panische Angst davor, jemand könnte etwas mitbekommen. Ich …, mir fiel nichts mehr ein, deswegen habe ich Adrienne hier vor die Tür gelegt. Ich konnte sie doch nicht zu einer Babyklappe bringen oder in ein Kinderheim. Ich …«
Sie brach erschöpft ab, und auch Roberta und Alma sagten zunächst einmal nichts mehr. Alma zerfloss beinahe vor lauter Mitleid, sie nahm irgendwann Paula ganz fest in ihre Arme, streichelte sie, und die ließ es geschehen.
Was für eine Geschichte!
Was sollte jetzt passieren?
Das war eine Frage, die selbst Roberta überforderte. Sie konnten ja nicht totschweigen, dass die Kindesmutter nun bekannt war. Es hätte Konsequenzen, so etwas konnte Roberta als Ärztin sich nicht erlauben.
»Wo wohnen Sie denn jetzt?«, wollte Alma wissen. »Noch immer in diesem Appartement? Und jobben Sie noch immer in dem Supermarkt?«
Beides bestätigte Paula, sie hielt den Kopf gesenkt.
»Es hat eine ganze Weile gedauert, bis mir bewusst wurde, was ich da getan habe. Deswegen kam ich auch immer her, aber ich habe mich einfach nicht getraut, einfach an der Tür zu klingeln. So wäre es weiterhin gegangen, wenn Sie mich nicht angesprochen hätten, Frau Doktor.«
»Was nun?«, erkundigte Alma sich bekümmert.
»Nun bleibt Paula, wenn sie damit einverstanden ist, erst einmal bei uns, bei ihrem Kind. Und dann überlegen wir weiter. Ich denke, wir werden nicht umhin kommen, den Behörden zu melden, was geschehen ist. Doch das werden wir nicht ohne einen Anwalt tun.«
»Muss ich ins Gefängnis?«, erkundigte Paula sich entsetzt. »Da bin ich vorbestraft, und wenn ich nach meinem Studium ein Führungszeugnis vorweisen muss oder auch so, kann ich alles knicken.«
»Sie wollen studieren?«, erkundigte Alma sich hoffnungsvoll, »das bedeutet, dass die kleine Adrienne bei uns im Doktorhaus bleiben kann?«
Das hätte Alma jetzt wirklich nicht fragen sollen, dazu war es viel zu früh. Das sah man an Paulas entsetztem Gesichtsausdruck. Die war froh, ihr Kind zu sehen, es bald in die Arme schließen zu können, ohne sich einen Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen sollte.
»Wir müssen jetzt überhaupt nichts entscheiden. Paula, ich finde es richtig, dass Sie irgendwann das Studium aufnehmen wollen. Es gibt viele Studentinnen, die Kinder haben. Und viele Universitäten haben auch Kindergärten. Doch etwas anderes sollten Sie bedenken, Paula. Meinen Sie nicht, dass Adrian, der Kindesvater, davon erfahren sollte, dass es Adrienne gibt?«
Paula schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich will ihm nicht im Wege stehen …, wir waren ja nicht miteinander verlobt, er hat mir auch nicht fest zugesagt, dass er mich heiraten will.«
»Aber er hat doch über die Zukunft gesprochen«, erinnerte Roberta sie.
Paula zögerte.
»Ja, das schon, aber nur … vage. Nein, ich schaffe es schon allein, ich weiß nur noch nicht wie …, aber ich möchte mein Kind zurück. Sie werden mir Adrienne doch geben?«, erkundigte sie sich ängstlich.
»Paula, welche Frage, natürlich. Sie sind die Mutter, doch es gibt da einiges zu klären, deswegen ist es vielleicht doch nicht so verkehrt, dass Sie erst einmal bei uns bleiben. Das Doktorhaus ist groß. Wir haben nicht nur ein Gästezimmer. Gemeinsam werden wir eine Lösung finden.« Roberta lächelte das junge Mädchen aufmunternd an. »Es ist auf jeden Fall schön, dass Sie jetzt hier sind, bei der kleinen Adrienne, die ein so wundervolles Mädchen ist. Und ich kann Sie auch direkt beruhigen, mit ihr ist alles in bester Ordnung.«
Als habe sie auf ein Stichwort gewartet, meldete Adrienne sich genau in diesem Augenblick, und alle drei Frauen sprangen beinahe gleichzeitig auf. Eigentlich wäre Alma zuerst am Stubenwagen gewesen, doch sie hielt sich zurück, ließ Paula den Vortritt, die nach kurzem Zögern ein wenig ungeschickt das Baby auf den Arm nahm. Und es war wirklich unglaublich. Sofort hörte Adrienne auf zu weinen. Eigentlich war es unmöglich, dass das Baby spürte, dass es bei seiner Mutter war. Aber es fühlte sich gut an.
Roberta und Alma standen still dabei, genossen dieses anheimelnde Bild mit Freude, aber auch ein wenig traurig. Zwar war jetzt noch alles offen, doch irgendwann in absehbarer Zeit würde es vorbei sein.