In Robertas Beruf kam man mehr als nur einmal in Situationen, die ziemlich grenzwertig waren, ob einem etwas oder jemand sympathisch oder unsympathisch war. Da musste man durch.
Das jetzt war eine Situation, die Roberta überforderte. Sie konnte es ignorieren, und alles würde so weiterlaufen wie bisher, oder aber sie klärte es, und, da war sie sich sehr sicher, würde sich alles verändern.
Ihr innerer Kampf dauerte nur ein paar Sekunden, dann gab sie sich einen Ruck, lief auf die schlanke junge Frau zu, die ihr bereits einige Male in der Nähe des Doktorhauses aufgefallen war.
Die junge Frau bemerkte, dass die Aufmerksamkeit ihr galt, wollte davonlaufen, doch Roberta hinderte sie daran.
»Halt, warten Sie bitte.«
Das half nichts, da musste sie halt stärkere Geschütze auffahren, obwohl sie sich das Zusammentreffen mit dieser Frau anders vorgestellt hatte.
»Ich weiß, wer Sie sind: die Mutter von Adrienne.«
Ein Blitzschlag hätte keine größere Wirkung haben können, die junge Frau blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich jedoch nicht um. Mit wenigen Schritten war Roberta bei ihr.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen das jetzt so direkt ins Gesicht geschleudert habe. Ich wollte jedoch nicht, dass Sie davonlaufen. Wir müssen miteinander reden.«
Im Zeitlupentempo drehte die junge Frau sich um.
Sie und Roberta sahen sich in die Augen.
Das Entsetzen war im Gesicht der jungen Frau nicht zu übersehen, auch eine gewisse Verunsicherung.
Sie war hochgewachsen, sehr schlank, hatte dunkelblonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, schöne graue Augen, in denen das blanke Entsetzen lag.
Die junge Frau war erregt, schluckte, verknetete ihre Hände ineinander.
»Ich …, wie haben Sie …, äh …«
Sie war nicht in der Lage, einen vernünftigen Satz herauszubringen.
Sie konnte einem so richtig leidtun, Roberta beschloss, allem ein Ende zu machen.
»Man muss keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um zu sehen, dass Sie etwas umtreibt. Etwas Interessantes hat das Doktorhaus nun wahrlich nicht zu bieten, um immer wieder herzukommen, bis auf eines, und das ist die kleine Adrienne.«
Die junge Frau zuckte zusammen, ihr Gesicht begann zu zucken, bekam einen gequälten Ausdruck.
So hatte es keinen Sinn, das war nicht mehr als Quälerei. Roberta sagte: »Ich denke, dass es keinen Sinn macht, hier auf der Straße herumzustehen, dafür ist das, was wir miteinander zu besprechen haben, viel zu wichtig.«
Hatte die junge Frau eigentlich mitbekommen, was Roberta da gerade zu ihr gesagt hatte? Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Sofort erwachte die Ärztin in Roberta. Sie legte einen Arm um die schmale Schulter der Frau und führte sie ins Doktorhaus, die ließ es willenlos mit sich geschehen.
Die junge Frau war vollkommen durch den Wind, sie konnte jeden Augenblick zusammenbrechen.
Drinnen saß Alma neben dem Stubenwagen, schaute verzückt da hinein, doch ihr Kopf ruckte hoch, als sie die Frau Doktor zusammen mit einer Fremden zurückkommen sah.
»Frau Doktor, ich dachte, Sie wären schon los zu den Krankenbesuchen.«
Roberta winkte ab.
»Es hat eine kleine Verzögerung gegeben, Frau …«, sie stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht einmal den Namen der jungen Frau kannte, die sich unbehaglich fühlte, die jeden Moment zusammenbrechen konnte. Um das zu verhindern, schob Roberta sie in einen Sessel, der nahe genug beim Stubenwagen stand, in dem die kleine Adrienne lag.
»Paula … Paula Koch«, kam ihr die junge Frau zur Hilfe.
Roberta nickte. Es war eine vertrackte Situation, sie und Alma hatten vollstes Vertrauen zueinander, es gab zwischen ihnen keine Geheimnisse. Roberta war sich allerdings sicher, dass es die Fremde überfordern würde, wenn Alma bei dem Gespräch, das es nun geben musste, dabei wäre. Wie sollte sie sich verhalten?
Alma einfach hinausschicken? Irgendwie ging das nicht, denn die war doch voll mit in dem Geschehen. Roberta hatte keine Ahnung, sie holte tief Luft, dann ließ sie die Bombe platzen. »Alma, Frau Koch ist die Mutter von unserer Adrienne.«
Das war zwar noch nicht bewiesen, aber für Roberta war es so sicher wie das Amen in der Kirche. Außerdem wäre ein Protest erfolgt, als Roberta es Paula vorhin an den Kopf geworfen hatte.
Almas Kopf ruckte nach oben, sie schaute ihre Chefin an, die junge, wie versteinert wirkende Frau.
»Sie ist … aber …«
Alma beendete ihren Satz nicht, erhob sich. »Dann will ich nicht länger stören«, jetzt klang ihre Stimme klar. Sie wollte den Raum nach einem letzten Blick auf die kleine Adrienne verlassen, als Paula sagte: »Bitte bleiben Sie, ich denke, Sie können es ebenfalls hören.«
Alma setzte sich wieder, insgeheim atmete Roberta erleichtert auf, es war gut so, doch sie hätte von sich aus den Vorschlag nicht machen können.
Es war ein bewegender Augenblick, sie schwiegen, denn das war jetzt eine Situation, die sie alle überforderte. Roberta überlegte, wie sie anfangen sollte, ohne die ohnehin verstörte Frau nicht zu überfordern. Und Alma, in deren Gesicht lag blanke Panik, denn wenn die Mutter der kleinen Adrienne gefunden war, dann bedeutete das …, nein, diesen Gedanken wollte sie nicht zu Ende bringen. Also saß sie stumm da, blickte von ihrer Chefin zu der jungen Frau.
»Frau Koch …, oder darf ich Paula sagen?«, erkundigte Roberta sich, was ein Nicken zur Folge hatte. »Möchten Sie sich Adrienne nicht ansehen?« Roberta hielt es für das Beste, denn natürlich war ihr aufgefallen, dass Paula unentwegt zum Stubenwagen gestarrt hatte.
Roberta hatte es noch nicht einmal ausgesprochen, als Paula auch schon aufstand, ganz nahe an den Stubenwagen herantrat, hineinschaute. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihre Hand ging nach vorne, um das Köpfchen zu berühren, hielt inne, zuckte zurück. Es war ein bewegender Augenblick, der auch Alma, die eh nahe am Wasser gebaut hatte, weinen ließ. Und selbst Roberta musste an sich halten.
Eines war klar, man konnte nun nicht einfach einen Schalter umkippen und ein Gespräch anfangen. Sie nutzte den Augenblick, um sich zu entfernen, ihre treue Ursel Hellenbrink anzurufen und die zu bitten, die beiden Patienten zu übernehmen. Es waren beides keine Fälle, die dringend die Anwesenheit von ihr erforderten. Sie hatte Ursel und Leni Wendler bloß entlasten wollen, die viele der Hausbesuche übernahmen, weil sie dafür ausgebildet worden waren und es sehr gern taten.
Natürlich war Ursel sofort dazu bereit, und Roberta beendete erleichtert das Telefonat. Roberta hatte jetzt keine Verpflichtungen mehr, was bedeutete, dass sie sich voll nicht nur auf diese junge Frau konzentrieren konnte, sondern auch darauf, wie es nun weitergehen würde. Das allerdings stand in den Sternen, Roberta hatte keine Ahnung. Davon nicht, aber sie hatte geahnt, dass etwas in der Luft lag, auch, dass Paula die Mutter von Adrienne sein musste. Die junge Frau hatte sich einfach zu oft in der Nähe des Doktorhauses aufgehalten und sich irgendwie auffällig benommen.
Als Roberta ins Wohnzimmer zurückkam, bot sich ihr ein anrührendes Bild. Alma und Paula saßen gemeinsam auf dem Sofa, Arm in Arm, beide ergriffen und mit Tränen in den Augen. Roberta kam sich beinahe wie ein Fremdkörper vor, vor allem fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, dass sie es sein musste, die diese Idylle unterbrechen sollte. Doch das war notwendig, schließlich ging es nicht um einen Small Talk, sondern um etwas, was auch Polizei und Jugendamt beschäftigte.
Zunächst einmal wartete sie, zum Glück schlief die kleine Adrienne friedlich in ihrem Stubenwagen. Das war schon ein Bild, das einem ans Herz gehen konnte. Und nun war davon auszugehen, dass die Zeit mit dem Baby …
Nein!
Daran wollte sie jetzt nicht denken, niemand sollte einen zweiten Schritt vor dem ersten tun. Es war noch eine ganze Menge zu klären, auch einige Ungereimtheiten. Es passte irgendwie nicht zusammen.