»Ich habe meine Absicht keineswegs geändert, Kay. Mir lag aber zunächst daran, abzuwarten, bis es dem Jungen etwas bessergeht. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werde ich versuchen, den Jungen behutsam anzuforschen. Erst wenn da etwas zutage kommt, werde ich mich mit der Leiterin des Städtischen Kinderheimes in Celle in Verbindung setzen.«
»Städtischen Kinderheim, Hanna? Ich war bis jetzt in dem Glauben, daß der Junge in dem privaten Heim ›Haus Maria‹, lebt. Gehört das nicht auch zu Celle?«
»Schon, Kay, aber Peter König lebt im Städtischen Heim, das sehr streng geführt wird.«
»Ach, so ist das, dann wundert es mich ja eigentlich nicht, daß der Junge verschüchtert ist. Ich habe Herrn Tönnis, den Heimleiter, einmal persönlich kennengelernt. Er ist nicht gerade ein überall beliebter Zeitgenosse. Ein strenger Mann.«
»Manchmal geht es wohl nicht anders, Kay. Ich selbst bin auch nicht für übermäßige Strenge. Doch wenn in einem solchen Heim viele Kinder leben, wird es für die Betreuer auch nicht immer leicht sein. Man muß in solchen Dingen immer beide Seiten sehen. Nun, ich werde diesen Herrn sicherlich bald persönlich kennenlernen. Bis jetzt glaubte ich, daß das Heim auch von einer Frau geleitet würde, so wie es im Heim ›Haus Maria‹ der Fall ist.«
»So war es bis vor einem Jahr, als Herr Tönnis die aus Altersgründen ausscheidende Leiterin ablöste.«
»Ach, so ist das, das wußte ich nicht. Spielt ja auch keine Rolle. Da müssen wir eben sehen, wie wir mit diesem Herrn Tönnis in Zukunft klarkommen.«
Als Hanna auf die Uhr sah, sagte Kay lächelnd: »Ich weiß, es wird Zeit für uns, die Pflichten rufen. Du gehst ja bestimmt zuerst hinauf auf die Station. Ich habe ebenfalls zu tun und will dich nicht länger aufhalten.«
*
Das Wochenende und auch die ersten Tage der neuen Woche gingen ohne besondere Vorkommnisse vorüber.
Michael Küsters hatte zwar noch ein paarmal versucht, Christina allein zu sprechen, doch wie beim ersten Mal hatte sie ihn einfach stehen lassen. Es war ihm jedoch schon aufgefallen, daß Christina sich in den wenigen Tagen, in denen er nun in der Klinik arbeitete, sehr verändert hatte. Ihr Gesicht war schmaler geworden, und sie war jetzt immer sehr blaß. Sie wirkte irgendwie fahrig und nervös. Michael Küsters registrierte diese Tatsachen mit Besorgnis, sogar mit leichtem Befremden. War es allein seine Anwesenheit in der Klinik, die diese Veränderung hervorgerufen hatte? Seiner Meinung nach konnte das nicht der Grund sein, und er konnte ihr Verhalten nicht verstehen. Er wußte inzwischen, daß Christina mit ihrer Kollegin, der zweiten Operationsschwester, in einem gemeinsamen Zimmer in der Klinik wohnte, so wie es auch bei einigen anderen Schwestern der Fall war. Vielleicht konnte er durch Schwester Barbara herausbekommen, wann Christina ihren freien Tag hatte. Aufgeben würde er auf keinen Fall. Dazu war ihm alles, was mit Christina zusammenhing, viel zu wichtig.
Am Mittwochmorgen, er assistierte dem Chef bei einer Blinddarmoperation, konnte er Christina nirgendwo entdecken. Es waren nur Schwester Barbara und zwei weitere junge Schwestern anwesend.
Nach Beendigung der Operation, als er einen Moment mit Schwester Barbara allein war, fragte er: »Wo haben Sie denn heute Ihre Kollegin Schwester Christina gelassen?«
»Christina hat heute ihren freien Tag, Herr Dr. Küsters«, antwortete die junge Schwester und sah ihn abwartend an, ob er vielleicht noch weitere Fragen stellen würde. Aber Michael sagte nur: »So, sie hat heute ihren freien Tag. Vielen Dank für die Auskunft, Schwester Barbara.«
Gegen elf sah Michael zufällig aus dem Fenster des Ärztezimmers, in dem er sich gerade aufhielt, wie Christina das Klinikgebäude verließ und auf den Parkplatz zuging, auf dem das Pflegepersonal und die Ärzte ihre Wagen abstellten. Von seinem Standort aus konnte er beobachten, daß sie sich immer wieder umschaute. Es sah so aus, als habe sie Angst davor, daß ihr jemand folgte. Eigenartig, dachte Michael und verharrte auf seinem Platz. Er würde so wenigstens feststellen können, welchen Wagen Christina fuhr. Zu gern wäre er ihr in diesem Augenblick gefolgt, um sie endlich einmal allein und außerhalb der Klinik zu treffen und sie zu einem Gespräch zu zwingen.
So mit seinen Gedanken beschäftigt, sah er einen kleinen weißen Golf vom Parkplatz kommen und in Richtung des hohen, schmiedeeisernen Torbogens davonfahren. Wo mag sie nur hinfahren? dachte er und sah dem Wagen nach, bis er seinen Blicken entschwunden war.
Michael Küsters ahnte nichts davon, daß es in Christinas Leben ein großes Geheimnis gab, das sie noch niemandem preisgegeben hatte, nicht einmal ihrer einzigen Freundin, Barbara.
»So in Gedanken, Dr. Küsters?«
Es wag Kay, der ins Ärztezimmer getreten war. Michael Küsters, der das Eintreten des Chefs völlig überhört hatte, fuhr erschrocken herum.
»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Martens, ich war wirklich einen Moment mit meinen Gedanken woanders.«
»Und sonst, alles in Ordnung? Fühlen Sie sich hier bei uns auf Birkenhain wohl?«
Prüfend sah Kay seinen neuen Mitarbeiter an, der einen winzigen Augenblick zögerte und dann entgegnete: »Ich fühle mich hier in der Klinik wohl, Herr Dr. Martens, und auch in der Pension ›Haus Daheim‹ bin ich gut untergekommen. Es ist ein sehr ruhiges Haus.«
Kay hatte das kurze Zögern wohl bemerkt und dachte bei sich: Scheint also doch nicht alles in Ordnung zu sein. Irgendwie kam ihm der sympathische junge Mann auch ein wenig verändert vor. Er ging jedoch nicht weiter auf diesen Punkt ein, sondern sagte freundlich lächelnd: »Es ist mir klar, daß die Pension für Sie nur eine Übergangslösung sein kann. Ich werde mich zwischenzeitlich auch umhören, ob wir für Sie nicht in der Nähe eine kleine Appartementwohnung finden. Kümmern Sie sich jetzt bitte darum, daß das Mädel von Zimmer vierzehn nach unten zum Röntgen gebracht wird. Werten Sie die Aufnahmen anschließend gleich aus, und bringen Sie mir die Ergebnisse in mein Sprechzimmer hinüber.«
Als Christina gegen Abend in die Klinik zurückkam, war Barbara schon in ihrem gemeinsamen Zimmer.
»Nun, Christina, hast du den Tag gut verlebt?« Fragend sah sie Christina an.
»Ich bin zufrieden, Barbara. Und wie ist es für dich heute hier gelaufen? War viel zu tun?«
»Eine Blinddarmoperation, mehr nicht. Aber unser Neuer, Dr. Küsters hat nach dir gefragt.«
»Er hat nach mir gefragt?« Erschrocken sah Christina die Freundin an.
»Ja, sag ich doch.«
»Und, was hast du ihm geantwortet?«
»Na, was schon. Natürlich, daß du heute deinen freien Tag hast.«
»Sonst nichts, Barbara?« Ein fremder Ausdruck flackerte in Christinas Augen.
»Nein, sonst nichts. Ich weiß ja selbst nicht, wo du deine freien Tage verbringst. Ich möchte sowieso gern wissen, was in den letzten Tagen eigentlich mit dir los ist. Es geht mich zwar nichts an, was da zwischen dir und dem Neuen spielt. Aber ich würde mich an deiner Stelle mehr zusammennehmen, damit nicht noch am Ende der Chef oder die Chefin etwas merken.«
»Ich versuche schon, mich zusammenzunehmen, Barbara. Ich kenne Michael Küsters. Es ist sechs Jahre her, als ich ihn damals in meiner Heimatstadt Erlangen kennengelernt hatte. Michael war meine erste große Liebe. Wir waren so glücklich, daß ich dumme Gans geglaubt habe, es würde auch so bleiben. Oft hatte Michael mir gesagt, wie sehr er mich liebt, daß wir, wenn er sein Studium abgeschlossen hätte, heiraten würden. Alles habe ich ihm geglaubt. Alles, bis zu dem Tag, an dem ich ihn mit einer anderen sah, die ihm gerade um den Hals fiel. Ich habe mich so gedemütigt gefühlt, daß ich ihn weder wiedersehen noch mit ihm sprechen wollte. Kurze Zeit nach diesem Zwischenfall habe ich Erlangen für immer verlassen. Es war ein schlimmer Schock für mich, als ich ihm plötzlich wieder gegenüber stand. Jetzt will er immer mit mir sprechen. Aber ich kann und will es einfach nicht.«
Mit einer hastigen Bewegung fuhr Christina sich über die Augen, die