Sonar 30
Ivana Sajko ist Autorin, Regisseurin, Performerin, Mitgründerin der Theatergruppe »BAD co.« und Redaktionsmitglied des Kunstmagazins »Frakcija«. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und ist Chevalier de l’ordre des Arts et Lettres. Auf Deutsch erschienen bisher Rio Bar, Archetyp: Medea. Bombenfrau. Europa, Trilogie des Ungehorsams und Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution). 2018 wurde sie für Liebesroman mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.
Alida Bremer übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster. Für Voland & Quist hat sie die Bücher von Edo Popović, Roman Simić und Ivana Sajko übersetzt. Für Liebesroman wurde sie 2018 als Übersetzerin mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.
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Die Übersetzerin bedankt sich beim Deutschen Übersetzerfonds, der die Arbeit am vorliegenden Text gefördert hat.
Originaltitel: Povijest moje obitelji od 1941. do 1991, i nakon, erschienen bei Meandarmedia, Zagreb 2009
© Ivana Sajko
DEUTSCHE ERSTAUSGABE
1. Auflag e 2020
Verlag Voland & Quist, Berlin, Dresden, Leipzig, 2020
© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist GmbH
Korrektorat: Kristina Wengorz
Umschlaggestaltung: HawaiiF3
Satz: Fred Uhde
eISBN 978-3-86391-278-9
Ivana Sajko
Familienroman
Die Ereignisse
von 1941 bis 1991
und darüber
hinaus
Aus dem Kroatischen
von Alida Bremer
Inhalt
1.
Ich habe drei Jahre meines eigenen Lebens gebraucht, um jene fünfzig kurz zusammenzufassen, die mir scheinbar überhaupt nicht widerfahren sind. Ich habe sie als Nachwirkung geerbt, ich habe sie nicht gewählt, sie sind mir geschehen, so, wie jedem Menschen die Stadt geschieht, in der er geboren wird, oder die Familie, zu der er gehören wird, oder die Sprache, in der er zu sprechen beginnt … und die ihn dann fertigmachen. In aller Stille. Ohne böse Absichten. Aber eben doch.
Deshalb besteht dieser kurze Bericht aus mindestens drei Geschichten.
Die erste ist die Geschichte meiner Familie, meiner Urgroßmütter, meiner Großmütter, meiner Großväter, meiner Mutter und meines Vaters, ihrer Einschusslöcher, der Glocken in ihren Köpfen und der Mäuse unter dem Bett. Sie blicken in die Zukunft, ohne jede Überraschung, wie Klees Angelus Novus. Sie starren mit aufgerissenen Augen vor sich hin und schreien lautlos in ihren kleinen Küchen. Dieses Buch ist die Reaktion auf ihre Stille.
Die zweite ist die Geschichte Zagrebs, niedergeschrieben in Diskontinuität und in Beschleunigungen, die vor den Allgemeinplätzen der kollektiven Erinnerung auf völlig private und zufällig festgehaltene Jahrestage ausweichen. Ich wollte zeigen, dass es unzählig viele Arten gibt, über Tatsachen zu sprechen. Keine einzige davon bildet die Wahrheit ab. Die Verkündung des Unabhängigen Staates Kroatien 1941. Die Befreiung Zagrebs 1945. Die große Überschwemmung 1964. Die Flugzeugentführung 1976. Titos Tod 1980. Bla, bla, bla. Lauter Märchen. Jeder hat sie den eigenen Kindern auf andere Weise erzählt. Das, was man mir erzählte, ist nicht dasselbe, was man den anderen erzählt hat. Aber sie haben es uns immer wieder vor dem Zubettgehen vorgekaut. Jeden Abend erneut. Es wäre leicht, ihnen das zu verübeln.
Die dritte Geschichte konstruiert sich durch meine eigene Auswahl der Ereignisse, der Helden und ihrer Zeugen. Sie ist in sich widersprüchlich, denn ich habe absichtlich Dokumente, Kommentare, Erinnerungen und Sätze ausgewählt, die miteinander in Konflikt stehen. Ich wollte einen historischen Roman schreiben, auf die einzige Art, die ich für möglich halte, unter Vermeidung sowohl des Genres wie auch jeder Ideologie, wie eine Geschichte, die sich vielleicht gar nicht ereignet hat, die sich eigentlich gar nicht ereignen kann. Wir können nur von ihr träumen und sie später wie einen Traum nacherzählen. Absolut persönlich. Ohne irgendetwas zu behaupten.
Deshalb beginnt sie mit dem Himmel über Zagreb. Dort oben.