Herr Rudi. Anna Herzig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Herzig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863912628
Скачать книгу
Herr Rudi hört es klingeln.

      »Hallo«, sagt er.

      »Hallo, hallo, hallo«, sagt die Stimme.

      Sein Handy liegt auf dem Bett, Paolo Conte in Dauerschleife. Dieses YouTube ist ein Hexenwerk, findet er.

      Aber diese Musik. Damals haben sie nackt im Haus getanzt, wenn niemand da war.

      Als die Livi gegangen ist, haben dem jungen Herrn Rudi Dinge wehgetan, von denen er nicht gewusst hat, dass die wehtun können. Regungslos ist er in der Küche gesessen, als wäre er ein Brotkorb, der zum Inventar gehört. Was wisst ihr von Liebe, haben die Eltern der Teenager damals gesagt, was wisst ihr denn schon? Der Vater vom Herrn Rudi hat das im Nachhinein bereut, weil er seinen Sohn noch nie so leiden gesehen, gravierend unterschätzt hat, was die beiden füreinander waren.

      Alte Seelen, die sich erkannt haben, möglicherweise.

      LACHEN KANN IM LEBEN OFT helfen, aber jetzt, im Hotelzimmer in Salzburg, mit elendem Hexenschuss – er zwingt sich.

      »Ha, ha. Haha.«

      »Du machst mir Angst«, sagt die Livi.

      »Kannst mich bitte für fünf Minuten in Ruhe lassen. Ich hab grad einen Moment.«

      »Du bist nackt.«

      »Ja.«

      »Und siehst anders aus.«

      »Ich bin alt. Da sehen Dinge nun mal anders aus.«

      »Was ist mit deinem Gesicht?«

      »Falten.«

      »Das andere.«

      »Das ist Traurigkeit.«

      »Warum?«

      »Wegen Dingen«, antwortet er.

      Eine Ungemütlichkeit, seine Einstellung zu Salzburg. Würde er sich bewegen können, der Herr Rudi, dann würde er vom Hotelbalkon aus schimpfen. Und zwar mit solch einer Leidenschaft, dass man ihn bis nach Wien hört. Hinunterspucken und sich in eine Hysterie hineinsteigern, die sich gewaschen hat, verdammt noch einmal.

      Bei seiner Ankunft am Salzburger Hauptbahnhof heute Nachmittag hatte er damit geliebäugelt, die Schnellbahn Nummer drei nach Hallein zu nehmen. Wegen der Bella-Palma-Pizzeria.

      Seit 1998 war die Bella Palma die Hauptkommandozentrale vom Fritz und dem Herrn Rudi. Es hat dort ein gewisses Flair, das muss man schon sagen, weil selbst die Servietten ein bisschen nach Italien riechen. Und Hallein, dort kann man sich schon verlieben. Da hat der Herr Rudi die Salzach immer in der Nähe. Der Fritz ist in Hallein aufgewachsen und wegen einer seiner großen Lieben nach Wien gezogen. Dann wieder nach Hallein. Dann wieder nach Wien. Dann wieder nach Hallein, und das nächste Mal Wien ist das letzte Mal geblieben. Da hat ihm das Leben drei Söhne geschenkt. Und mit dem Leben ist es meist so: Entweder passiert dir alles oder eben nichts. Wenn der Fritz über Salzburg redet, steckt er sich eine Zigarre in den Mund. Anzünden tut er sie nicht.

      »Liebe. Was soll denn das am Ende des Tages eigentlich sein?«, fragt der Fritz.

      »Ich glaub, das ist, wenn der Kopf sagt: Ich fühl mich verbunden«, antwortet der Herr Rudi.

      »Sei nicht komisch, Rudi.«

      »Wieso komisch?«

      »Denk doch mal nach.«

      »Ach was.«

      »Du bist doch ständig verliebt, Herr Fritz.«

      »Aber die große Liebe: vor Ewigkeiten, Herr Rudi!«

      »Herr Rudi, Herr Rudi – ich hab gar keinen Nachnamen mehr.«

      Der Fritz kaute an dem Ende seiner Zigarre herum und sagte: »Herr Fritz passt aber irgendwie nicht.«

      »Nein«, antwortet der Herr Rudi, »irgendwie nicht.«

      JETZT KANN ER NUR MEHR VERSUCHEN zu kriechen. Millimeter für Millimeter und währenddessen von gedanklichem Proviant zehren.

      »Findest das lustig«, schnauft er.

      Die Livi hat sich auf seinen Rücken gesetzt und ihn zum Pferd ernannt. Das macht sie seit einigen Jahrzehnten so.

      »Ich mag Spaß«, sagt sie.

      »Du machst Spaß, meinst.«

      »Pferdchen, hü-hott.«

      »Livi, ich schwör dir …«

      »Lach doch mal ein bisschen.«

      »Ich bin ein alter Mann. Mir tut das weh.«

      »Spiel was mit mir.«

      »Ich bin müde. Geh bitte runter von mir.«

      »Du hast mich nicht mehr lieb.«

      »Wenn du so weitermachst, korrekt.«

      »Du bist böse.«

      »Und alt«, schnauft der Herr Rudi.

      »Hallo?«, fragt sie.

      »Hast dir eigentlich mal überlegt, wie das gewesen wär, wenn nicht du, sondern ich gestorben wär. Dann wäre ich jetzt dein Geist.«

      »Was ist gestorben

      »Wenn der Körper sagt: Ich mag nicht mehr.«

      Nun muss er doch ein bisschen weinen, wie sie da so auf ihm sitzt. Geister auf den Schultern zu tragen, kann die seltsamsten Schmerzen herbeiführen.

      HEUTE, AN SEINEM GEBURTSTAG, fühlt er sich dem Leben im Allgemeinen näher. Den Dingen, die schön sind, und den Dingen, die wehtun. Wehtut: der Hexenschuss. Der Nebel. Die Diagnose vom Arzt.

      Aber so dahinzusiechen, das ist dem Herrn Rudi nichts. Der Livi damals beim Sterben zuzuschauen, hat ihn in seine elementarsten Teilchen zerlegt. Der Gang weg von ihrem frischen Grab. Der elende Friedhofsgeruch wird ihm vier Jahrzehnte danach noch das rechte Nasenloch verstopfen. Er hat geglaubt, es zerreißt ihm die Organe.

      Wer gibt ihr eine Decke, was, wenn sie aufwacht und allein ist? Wenn sie Angst hat und weinen muss, weil keiner sie hört? Jemand muss doch in ihrer Nähe bleiben und sie lieb haben. Beschützen vor der Kälte und den Tierchen da unten.

      Die Eltern von der Livi hatten ihn gebeten, aufzustehen und ein paar Worte zu sagen. Der junge Herr Rudi hat nur genickt. Als er dann im Anzug vor der Trauergemeinde gestanden ist, hat er nur ins Leere geschaut, unfähig irgendetwas zu sagen. Er hat zu weinen begonnen, so laut und schmerzvoll, dass sein Vater herbeigeeilt ist und ihn unter dem Arm stützend aus der Kirche gebracht hat. Er hat sich aus dem Griff seines Vaters befreit, ist zurückgerannt in die Kirche, hat wutentbrannt jedes Blumengesteck zu Boden geworfen, das in seiner Nähe war, ist darauf herumgetrampelt und hat geschrien: »Das bringt jetzt auch nichts mehr! Versteht ihr das nicht?!«

      Im Kreis ist er gestampft und hat gebrüllt: »Sie mag keine Rosen!«

      Ist zitternd zusammengesunken und hat geschluchzt: »Warum muss sie denn jetzt allein in einer Kiste sein?«

      Stunden später ist er in sein Zimmer gekrochen, verquollene Augen und Speichelfäden ums Kinn, hat sich die riesige Tagesdecke über den Kopf gezogen und gedacht: Es gibt keinen nächsten Tag mehr. Egal, was jetzt noch passiert, die Sonne, die geht nicht wieder auf.

      Man möge sich nun das Ausmaß des Hochverrats vorstellen, als der nächste Tag sehr wohl gekommen ist.

      Der junge Herr Rudi wird in den darauffolgenden Wochen zu einem Geist werden, der nachts jaulend vor Schmerz im Elternhaus herumwandert, durch Gänge und Zimmer schleicht, alles und jeden anklagt, weil man ihn um ein ganzes Leben betrogen hat.

      Stunden um Stunden wird er schlafen, Decke über den Kopf gezogen. Einschlafen, weinen. Aufwachen, weinen. Dazwischen: Weinen. Nur das notwendigste: Atmen. Wenn er Kraft hat, die Notdurft zu verrichten, gut. Wenn nicht, dann lässt er es laufen. Alles. Er wird dieselbe Kleidung tragen, tagein tagaus,