Herr Rudi. Anna Herzig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Herzig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863912628
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Weinglas.

      Dort findet man mal mehr, mal weniger Bedeutsames. Schätze und Erinnerungen. Momente, in denen man gewusst hat, wer man ist. Deswegen ist ein zweites, drittes oder viertes Glas Rotwein keine blöde Idee. Dann findet man den Rest.

      »Wie machst du das«, sagt der Herr Rudi und schiebt sein Sushi-Tellerchen zur Seite.

      »Hunger«, antwortet der Fritz.

      »So ein kleiner Körper.«

      »Aber der hier«, sagt der Fritz und klopft sich auf den Bauch, »zählt für zwei Männer.«

      Der Herr Rudi versteht das mit dem zärtlich angefutterten Bauch ja. Er selbst ist nämlich ein passionierter Nachtesser. Da kann er gar nichts dafür, weil in der Nacht, da erwacht sein ganzer Organismus zum Leben. Untertags fährt er auf Autopilot, aber nachts, da spürt er seinen Körper vibrieren. Da kriegt er Appetit auf alles, was es in der Welt an Köstlichkeiten gibt. Der Herr Rudi ist nämlich ein Stier und wohnt sozusagen im Genuss.

      »Wie geht’s denn mit der …?«, fragt er den Fritz.

      »Wem?«

      »Wie heißt sie noch mal, ich hab’s vergessen.«

      »Silvia.«

      »Genau.«

      »Na ja.«

      »Nichts mehr?«

      »Weiß nicht.«

      »Ist was passiert?«

      »Sie will noch ein Kind.«

      »Mit dir?«

      »Mit wem sonst?«

      »Zusammen habt ihr doch schon vier.«

      »Eben. Isst du das noch?«

      »Nein, bedien dich.«

      »Danke.«

      »Und?«

      »Was und

      »Was machst?«

      »Gibt nur drei Möglichkeiten«, antwortet der Fritz kauend und holt sich das nächste Tellerchen vom Fließband, »entweder ich sitz es aus.«

      »Kannst.«

      »Oder ich erfüll ihr das.«

      »Kannst auch.«

      »Oder.«

      »Oder?«, fragt der Herr Rudi.

      »Trennung.«

      »Keine andere Möglichkeit?«

      »Eher nicht.«

      »Das tut mir leid.«

      »Es ist, wie es ist.«

      Der Herr Rudi nimmt sein Weinglas und prostet dem Fritz zu.

      »Irgendwann, mein Freund …«, sagt er.

      »Wenn du mit mein Freund anfängst, dann willst du doch was von mir«, antwortet der Fritz.

      »… irgendwann, mein Freund, wenn wir das nächste Mal gemeinsam in Salzburg sind …«

      »Jetzt kommt’s.«

      »… dann fährst du mit mir den Untersberg hinauf!«

      Der Fritz verschluckt sich am Grinsen vom Herrn Rudi und auch ein bisschen an einer Litschi.

      »Spinnst?«

      »Doch, doch, das machen wir.«

      »Spinnst!«

      »Sei nicht so.«

      »Ich hab Höhenangst, Rudi, das weißt du ganz genau. Ich steig nicht mal auf eine Leiter.«

      »In der Untersbergbahn passiert dir nichts. Die Aussicht ist genüsslich, das sag ich dir.«

      »Ich setz mich ganz sicher nicht in so eine Todeskabine.«

      »Sei nicht komisch, Fritz.«

      »Aber wirklich nicht!«

      »Dann gehen wir hinauf.«

      »Du bist eine blöde Sau.«

      DER HEXENSCHUSS HOLT den Herrn Rudi zurück. Realität ist dort, wo Schmerz ist.

      Ihm fällt der geöffnete, noch fast volle Rotwein wieder ein, der in Griffweite steht. Der Herr Rudi trinkt aus der Flasche und weint. Trinkt und weint und trinkt und weint, während er auf dem Boden kniet, mit der einen Hand abgestützt, in der anderen die Flasche.

      »Que sera, seraaaa«, grölt er zwischen zwei Schluchzern, »whatever will be, will be.« Dann summt er, weil er den Rest vergessen hat. Auf drei Gliedern beginnt er zu wippen. Wiederkehrende Bewegungen. Vielleicht, wenn er schnell genug trinkt und wippt und trinkt und wippt und trinkt und weiter wippt, kann er sich in der Zeit zurücktrinken. Wie eine Zeitmaschine, nur ohne Zeitmaschine, dafür mit Rotwein.

      Heureka, wenn das gelänge!

      Er würde sich zurücktrinken zur Olivia. Zurück zu jenem Sommer, bevor sie starb. Zurücktrinken zu seinem Vater und ihm sagen, dass er nach dem Tod der Mutter ein Recht darauf gehabt hätte, wieder glücklich zu sein, egal, was die Leute im Dorf sagen. Zurücktrinken zu einer anderen Berufswahl, einer, die das Elend der Menschen nicht noch aussichtsloser macht.

      »Que sera«, jammert er und ist für einen Moment unachtsam. Die Flasche rollt davon, und der Herr Rudi ist fassungslos ob dieses Verrats.

      »Soso«, sagt er. »Soso, du mieser Verräter. Ich brauch dich eh nicht.«

      Die Flasche, mittlerweile regungslos auf der anderen Seite des Raums angekommen, bleibt kühl und lässt sich auf keine Diskussion ein.

      »Ich hab’s nicht so gemeint«, flüstert er, »wenn du mir entgegenkommst, wäre das fein.«

      Keine Antwort.

      »Können wir das so machen, bitte schön?«

      Keine Antwort.

      »Schau, ich hab doch nur mehr dich.«

      Die Flasche, denkt er, könnte ja eine Seele haben, ein Leben. Ein eigenes nämlich, mit Verpflichtungen. Eine Ehefrau, ein lieblicher Muskateller vielleicht. Die Kinder: Rosé. Merlot musste kurzfristig aus dem gemeinsamen Weinregal ausziehen. Man wird sehen, ob Distanz wieder verbinden kann. Merlot und Muska verbindet eine lange Geschichte, die allerdings geheim bleibt. Eine feurige Liebe, so viel kann man sagen. Die großen Gefühle, findet der Herr Rudi, dürfen ruhig eine angemessene Zeit brauchen, um zu reifen. So erzählt er es zumindest der Flasche, hofft auf einen Lufthauch, der sie samt den noch nicht ausgeronnenen Überresten Wein zu ihm herüberrollen lässt. Nichts passiert.

      Es ist demnach entschieden. Die Flasche und er werden getrennte Wege gehen. Er denkt über die Sauerei im Badezimmer nach und fragt sich, ob man das irgendjemandem zumuten kann. Wer will denn so etwas beim Morgendienst finden?

      »Steh auf, Rudi«, sagt er zu sich.

      Er versucht und scheitert im selben Moment daran, sich aufzurichten, gefolgt von einem »AuaScheißeHimmel-HerrgottJosefundMaria.«

      »Was tut dir denn weh?«, fragt die Livi plötzlich.

      »Das Alter.«

      »Kenn ich nicht.«

      »Ich weiß.«

      »Wie ist das?«

      »Elend. Manchmal.«

      »Es ist still hier.«

      »Weißt, vor ein paar Tagen ist es mir passiert. Das, was nie hätte passieren dürfen. Ich hab mich nicht mehr erinnern können, wie du riechst.«

      »…«

      »Den ganzen Keller hab ich nach deinem Karton abgesucht, dem braunen, eingerissenen, den mir deine Mutter nach der Beerdigung mitgegeben hat. Decken, Kleidung, der Marmeladenvorrat. Ich hab geglaubt: