Schwejk setzte sich an den Tisch in die Gesellschaft der Verschwörer, die einander bereits zum zehntenmal erzählten, wie sie in diese Affäre hineingeraten waren.
Alle, bis auf einen, hatte es entweder im Wirtshaus, in der Weinstube oder im Kaffeehaus ereilt. Eine Ausnahme bildete ein ungewöhnlich dicker Herr mit einer Brille und verweinten Augen, der zu Hause in seiner Wohnung verhaftet worden war, weil er zwei Tage vor dem Attentat in Sarajevo für zwei serbische Studenten, Techniker, im Gasthaus die Zeche bezahlt hatte und vom Detektiv Brixi in ihrer Gesellschaft betrunken im »Montmartre« in der Kettengasse gesehen worden war, wo er, wie er im Protokoll bereits durch seine Unterschrift bestätigt hatte, ebenfalls für sie gezahlt hatte.
Auf alle Fragen bei der Voruntersuchung auf der Polizeidirektion jammerte er stereotyp: »Ich habe ein Papiergeschäft.«
Worauf ihm ebenfalls die stereotype Antwort zuteil wurde: »Das entlastet Sie nicht.«
Der kleine Herr, den es in einer Weinstube erwischt hatte, war Geschichtsprofessor und hatte dem Weinstubenbesitzer die Geschichte verschiedener Attentate erklärt. Er wurde gerade in dem Augenblick verhaftet, als er die psychologische Analyse aller Attentate mit den Worten beendete: »Der Gedanke des Attentates ist so einfach wie das Ei des Kolumbus.«
»Genauso einfach, wie Sie Pankrác erwartet«, wurde sein Ausspruch während des Verhörs von dem Polizeikommissär ergänzt.
Der dritte Verschwörer war der Vorsitzende des Wohltätigkeitsvereins »Dobromil« in Hodkowitschka. An dem Tage, an dem das Attentat verübt worden war, veranstaltete der »Dobromil« ein Gartenfest mit anschließendem Konzert. Der Gendarmeriewachtmeister kam, um die Teilnehmer aufzufordern, das Fest zu beenden, denn Österreich habe Trauer, worauf der Vorsitzende des »Dobromil« gutmütig entgegnete: »Warten Sie ein Weilchen, bis man das ›Hej, Slowane‹2 zu Ende gespielt haben wird.«
Jetzt saß er da mit gesenktem Kopf und lamentierte: »Im August haben wir neue Vorstandswahlen, wenn ich bis zu der Zeit nicht zu Hause bin, kann es geschehen, daß man mich nicht wählt. Und ich bin schon zum zehntenmal Vorsitzender. Ich überleb diese Schande nicht.«
Seltsam hatte der selige Ferdinand dem vierten Verhafteten mitgespielt, einem Mann von lauterem Charakter und makellosem Schild. Er war volle zwei Tage jeglichem Gespräch über Ferdinand ausgewichen, bis er abends im Café beim Mariagespiel den Eichelkönig mit der Schellsieben trumpfte: »Sieben Kugeln wie in Sarajevo.«
Haar und Bart des fünften Mannes, der, wie er selbst sagte, »wegen diesem Mord am Herrn Erzherzog in Sarajevo« saß, waren noch vor Schreck gesträubt, so daß sein Kopf an einen Stallpinscher gemahnte.
Dieser Mann hatte in dem Restaurant, wo er verhaftet worden war, überhaupt kein Wort gesprochen, ja nicht einmal die Zeitungsberichte über die Ermordung Ferdinands gelesen. Er war ganz allein an einem Tisch gesessen, als irgendein Herr zu ihm kam, sich ihm gegenübersetzte und rasch zu ihm sagte: »Haben Sie davon gelesen?«
»Nein.«
»Wissen Sie davon?«
»Nein.«
»Und wissen Sie, worum es sich handelt?«
»Nein, ich kümmer mich nicht drum.«
»Aber es sollte Sie doch interessieren.«
»Ich weiß nicht, was mich interessieren sollt! Ich rauch meine Zigarre, trink meine paar Glas Bier, eß mein Abendbrot und les keine Zeitung. Die Zeitungen lügen. Wozu soll ich mich aufregen?«
»Sie interessiert also nicht einmal der Mord in Sarajevo?«
»Mich interessiert überhaupt kein Mord, obs nun in Prag, in Wien, in Sarajevo oder in London is. Dafür sind die Behörden, die Gerichte und die Polizei da. Wenn man jemanden irgendwo erschlägt, recht geschieht ihm, warum is der Trottel so unvorsichtig und läßt sich erschlagen.«
Das waren seine letzten Worte in dieser Unterredung.
Seit dieser Zeit wiederholte er nur laut in Intervallen von fünf Minuten: »Ich bin unschuldig.«
Diese Worte rief er auch im Tor der Polizeidirektion, diese Worte wird er auch während der Überprüfung zum Strafgericht in Prag wiederholen, und mit diesen Worten wird er auch seine Kerkerzelle betreten.
Als Schwejk alle diese schrecklichen Verschwörergeschichten angehört hatte, hielt er es für angezeigt, den Arrestanten die vollständige Hoffnungslosigkeit ihrer Situation zu erklären.
»Ja, mit uns allen stehts sehr schlecht«, begann er seine Trostesworte. »Das is nicht wahr, was ihr sagt, daß euch, uns allen, nix geschehn kann. Wofür ham wir eine Polizei, als dafür, daß sie uns für unsere losen Mäuler straft. Wenn eine so gefährliche Zeit kommt, daß man auf Erzherzoge schießt, so darf sich niemand wundern, daß man ihn auf die Polizeidirektion bringt. Das geschieht alles von wegen der Aufmachung, damit der Ferdinand Reklam hat vor seinem Begräbnis. Je mehr unser hier sein wern, desto besser wirds für uns sein, denn um so lustiger wern wirs haben. Wie ich beim Militär gedient hab, war manchmal unsere halbe Kompanie eingesperrt. Und wieviel unschuldige Leute sind schon verurteilt worn. Und nicht nur beim Militär, sondern auch von den Gerichten. Einmal is, ich erinner mich noch gut, eine Frau verurteilt worn, weil sie ihre neugeborenen Zwillinge erwürgt hat. Obgleich sie steif und fest geschworen hat, daß sie die Zwillinge nicht hat erwürgen können, weil sie nur ein Mäderl zur Welt gebracht hat und es ihr gelungen war, es ganz schmerzlos zu erwürgen, is sie trotzdem wegen Doppelmord verurteilt worn. Oder dieser unschuldige Zigeuner in Zabéhlitz, was am Christtag in der Nacht in einen Bäckerladen eingebrochen is. Er hat geschworen, daß er sich nur anwärmen gegangen is, aber es hat ihm nichts genützt. Wie das Gericht mal was in die Hand nimmt, stehts schlimm. Aber das muß sein. Vielleicht sind nicht alle Leute solche Lumpen, wie man es von ihnen voraussetzen kann: aber wie unterscheidest du heutzutage einen anständigen Menschen von einem Lumpen, besonders heut, in einer so ernsten Zeit, wo sie diesen Ferdinand abgemurkst ham. Da hat man bei uns, wie ich beim Militär in Budweis gedient hab, im Wald hinterm Exerzierplatz den Hund von unserem Hauptmann erschossen. Wie er davon erfahren hat, hat er uns alle rufen lassen, hat uns antreten lassen und hat gesagt, daß jeder zehnte Mann vortreten soll. Selbstverständlich war ich auch der zehnte, und so sind wir Habtacht gestanden und ham nicht mal gezwinkert. Der Hauptmann geht um uns herum und sagt: ›Ihr Lumpen, Schurken, Kanaillen, gefleckte Hyänen, ich möcht euch allen wegen dem Hund Einzel aufpelzen, euch zu Nudeln zerhacken, erschießen und blauen Karpfen aus euch machen. Damit ihrs aber wißt, daß ich euch nicht schonen wer, geb ich euch allen zehn Tage Kasernarrest.‹ Also seht ihr, damals hat sichs um ein Hunterl gehandelt, und jetzt handelt sichs sogar um einen Erzherzog. Und deshalb muß Schrecken sein, damit die Trauer für was steht.«
»Ich bin unschuldig, ich bin unschuldig«, wiederholte der Mann mit dem gesträubten Haar.
»Jesus Christus war auch unschuldig«, sagte Schwejk, »und sie ham ihn auch gekreuzigt. Nirgendwo is jemals jemandem etwas an einem unschuldigen Menschen gelegen gewesen. ›Maulhalten und weiterdienen!‹ – wie mans uns beim Militär gesagt hat. Das is das Beste und Schönste.«
Schwejk legte sich auf das Kavallett und schlief friedlich ein.
Inzwischen brachte man zwei Neue. Einer von ihnen war ein Bosniake. Er schritt in der Zelle auf und ab, knirschte mit den Zähnen und jedes zweite Wort von ihm war: »Jeben ti duschu.«3 Ihn quälte der Gedanke, daß ihm auf der Polizeidirektion sein Gottscheerkorb4verlorengehen könnte.
Der zweite neue Gast war der Wirt Palivec, der seinen Bekannten Schwejk, als er ihn bemerkte, weckte und mit einer Stimme voller Tragik rief: »Ich bin auch schon hier!«
Schwejk schüttelte ihm herzlich die Hand und sagte: »Da bin ich wirklich froh. Ich hab gewußt, daß jener Herr Wort halten wird, wie er Ihnen gesagt hat, daß man Sie abholen wird. So eine Pünktlichkeit is eine schöne Sache.«
Herr Palivec bemerkte jedoch, daß so eine Pünktlichkeit einen Dreck wert sei, und fragte Schwejk leise, ob die andern