»Und wirst du uns nicht weglaufen?«
Der Lange mischte sich ins Gespräch. Es ist eine überaus merkwürdige Erscheinung, daß die kleinen Dicken größtenteils gutmütige Optimisten zu sein pflegen, während die hageren Langen im Gegenteil Skeptiker sind.
Und deshalb sagte der Lange zu dem Kleinen: »Wenn er könnt, möcht er weglaufen.«
»Und warum möcht er weglaufen«, ließ sich der kleine Dickwanst vernehmen, »er ist so gut wie frei, ausm Garnisonsarrest heraus. Hier trag ichs im Paket.«
»Und was is dort in dem Paket fürn Feldkuraten?« fragte der Lange.
»Das weiß ich nicht.«
»Also siehst du, weißt nicht und redst.«
Sie gingen in tiefem Schweigen über die Karlsbrücke. In der Karlsgasse sagte abermals der kleine Dicke zu Schwejk: »Weißt du nicht, warum wir dich zum Feldkuraten führen?«
»Zur Beichte«, warf Schwejk gleichmütig hin, »morgen wer ich aufgehängt. Das macht man immer so und nennt es geistlichen Trost.«
»Und warum wird man dich, wie man sagt …«, fragte vorsichtig der Lange, während der Dicke Schwejk teilnahmsvoll betrachtete.
Beide waren Handwerker vom Land, Familienväter.
»Ich weiß nicht«, antwortete Schwejk, gutmütig lächelnd, »ich weiß von nichts. Vielleicht is es Bestimmung.«
»Wahrscheinlich bist du auf einem unglücklichen Planeten geboren«, bemerkte der Kleine mitfühlend mit Kennermiene, »bei uns in Jasena bei Josefstadt, noch während des Preußenkrieges, hat man auch einen gehängt. Sie ham ihn geholt, ham ihm nichts gesagt, und in Josefstadt ham sie ihn gehängt.«
»Ich glaub«, sagte der Lange skeptisch, »daß man einen Menschen nicht um nichts und wieder nichts hängt, es muß immer eine Ursache dazu sein, damit mans begründen kann.«
»Wenn kein Krieg is«, bemerkte Schwejk, »so muß mans begründen, aber im Krieg nimmt man auf einen Menschen nicht Rücksicht. Soll er an die Front oder zu Haus gehängt wern. Gehupft wie gesprungen.«
»Hör einmal, bist du nicht am Ende politisch?« fragte die Hopfenstange. Dem Ton dieser Frage merkte man an, daß der Lange anfing, Schwejk geneigt zu sein.
»Politisch bin ich bis zuviel.« Schwejk lachte.
»Bist du nicht Nationalsozialist?« Jetzt fing der kleine Dicke an, vorsichtig zu sein. Er mischte sich ins Gespräch. »Was geht uns das an«, sagte er, »überall is voll von Menschen, und man beobachtet uns. Wenn wir wenigstens in einem Hausflur die Bajonette abnehmen könnten, damits nicht so ausschaut. Wirst du uns nicht weglaufen? Wir hätten draus Unannehmlichkeiten. Hab ich nicht recht, Toni?« wandte er sich an den Langen, der leise sagte: »Die Bajonette könnten wir abnehmen. Er ist doch einer von den Unsern.«
Er hörte auf, Skeptiker zu sein, und seine Seele war von Mitleid mit Schwejk erfüllt. Sie suchten also einen geeigneten Hausflur, wo sie die Bajonette hinunternahmen, und der Dicke erlaubte Schwejk, neben ihm zu gehen.
»Du möchtest rauchen, was?« sagte er, »ob sie dich wohl rauchen lassen werden, bevor sie dich aufhängen«, aber er vollendete den Satz nicht, denn er fühlte, daß es eine Taktlosigkeit gewesen wäre.
Sie rauchten alle, und die Begleiter Schwejks fingen an, ihm von ihren Familien im Königgrätzer Kreis zu erzählen, von ihren Frauen, Kindern, von einem Stückchen Feld, von einer Kuh.
»Ich hab Durst«, sagte Schwejk.
Der Lange und der Kleine blickten einander an.
»Auf ein Bier möchten wir auch gehn«, sagte der Kleine, die Zustimmung des Langen herausfühlend, »aber irgendwohin, wos nicht auffallend wär.«
»Gehn wir zum ›Kuklik‹«, schlug Schwejk vor, »die Bajonette stellt ihr in die Küche, der Wirt Serabona is Sokol1, vor dem müßt ihr euch nicht fürchten.
Man spielt dort Geige und Harmonika«, fuhr Schwejk fort, »und es gehn Straßenmädel hin und verschiedene andere feine Leute, die nicht ins Repräsentationshaus2dürfen.«
Der Lange und der Kleine schauten einander nochmals an, und dann sagte der Lange: »Also gehn wir hin, nach Karolinenthal is noch weit.«
Unterwegs erzählte ihnen Schwejk verschiedene Anekdoten, und sie traten gutgelaunt bei »Kuklik« ein und taten so, wie Schwejk ihnen geraten hatte. Die Gewehre deponierten sie in der Küche und betraten das Lokal, wo Geige und Harmonika den Raum mit Klängen des beliebten Liedes erfüllten: »Ja in Pankrác, auf den kleinen Hügel, führt ein hübscher kühler Weg …«
Irgendein Fräulein, das einem abgelebten Jüngling mit glattfrisiertem Scheitel auf dem Schoß saß, sang mit heiserer Stimme: »Hab ein Mädel aufgegabelt, und ein anderer geht mit ihr.«
Bei einem Tisch schlief ein betrunkener Sardinenverkäufer, von Zeit zu Zeit wachte er auf, schlug mit der Faust auf den Tisch, murmelte: »Es geht nicht«, und schlief wieder weiter. Hinter dem Billard unter dem Spiegel saßen drei andere Damen und riefen einem Kondukteur von der Eisenbahn zu: »Junger Herr, spendierens uns a Wermut.« Bei der Musik stritten zwei darüber, ob eine gewisse Marie gestern von der Patrouille erwischt worden sei. Einer hatte es mit eigenen Augen gesehen, und der zweite behauptete, Marie sei sich mit einem Soldaten zu »Walsch« ins Hotel ausschlafen gegangen.
In der Nähe der Tür saß ein Soldat mit einigen Zivilisten und erzählte ihnen von seiner Verwundung in Serbien. Eine Hand hatte er verbunden, und seine Taschen waren voller Zigaretten, die er von den Leuten bekommen hatte. Er sagte, daß er nicht mehr trinken könne, und einer von der Gesellschaft, ein glatzköpfiger Greis, forderte ihn unaufhörlich auf: »Trinken Sie nur, mein Lieber, wer weiß, ob wir noch mal zusammenkommen. Soll ich Ihnen was aufspieln lassen? Hören Sie gern ›Das Waisenkind‹?«
Das war nämlich das Lieblingslied des glatzköpfigen Greises, und wirklich kreischten bald darauf Geige und Harmonika auf, während dem Greis Tränen in die Augen schossen und er mit zitternder Stimme sang: »Als es Sprach erlangte, nach der Mutter bangte, nach der Mutter bangte.«
Vom Nebentisch her ertönte es: »Lassen Sie sich das. Lassen Sie sich ausstopfen. Hängen Sie sich auf einen Nagel. Verduften Sie mit Ihrem Waisenkind.«
Und gleichsam als letzten Trumpf begann der feindliche Tisch zu singen: »Scheiden, ach Scheidens Schmerz, mir bricht dabei das Herz …«
»Franto!« rief man dem verwundeten Soldaten zu, als man, »Das Waisenkind« übertäubend, zu Ende gesungen hatte, »laß sie schon sein und setz dich zu uns. Pfeif auf sie und schick Zigaretten herüber! Wirst sie doch nicht unterhalten, die Schlappschwänze.«
Schwejk und seine Begleiter betrachteten das alles mit Interesse.
Schwejk versenkte sich in Erinnerungen. Wie oft war er hier vor dem Krieg gesessen. Häufig war Polizeikommissär Draschner zu einer Razzia hergekommen, die Prostituierten, die sich vor ihm fürchteten, hatten ein Lied mit einem Spottext auf ihn verfaßt. Einmal sangen sie im Chor:
Als mal Herr Draschner kam,
hub ein großes Breigel an,
Maňa, die war besoffen,
hats mit Draschner gut getroffen.
Im nämlichen Augenblicke war Draschner mit seinen Leuten eingetreten, fürchterlich und unerbittlich. Es war, wie wenn man mitten unter Rebhühner schießt. Zivilpolizisten trieben alles zu einem Haufen zusammen. Auch er, Schwejk, kam damals in diesen Haufen, denn bei seinem Pech hatte er Kommissär Draschner gesagt, als ihn dieser aufforderte, sich zu legitimieren: »Haben Sie dazu eine Bewilligung von der Polizeidirektion?« Schwejk erinnerte sich auch eines Dichters, der hier unter dem Spiegel zu sitzen pflegte und in dem allgemeinen Lärm bei Gesang und Harmonikaklängen seine Gedichte schrieb und sie den Prostituierten vorlas.
Schwejks