Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rebecca Michéle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958131354
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Als die Schwester das Zimmer betrat, keuchte das Kind: »Tut so weh ...« Ihre Worte gingen in einem weiteren Hustenanfall verloren. In Annas Brust rasselte es wie bei einem Schwertkampf.

      »Ich weiß, mein Schatz, ich weiß.« Hedwig schloss den fieberheißen Körper ihrer siebenjährigen Schwester in die Arme. »Du wirst bald wieder gesund sein, du musst nur immer schön die Medizin nehmen.«

      »Die ist so bitter.« Tränen kullerten über die blassen Wangen des Kindes.

      »Je bitterer eine Medizin schmeckt, umso besser wirkt sie«, sagte Hedwig leichthin, dabei war ihr nicht zum Scherzen zumute. Seit zwei Wochen hielt die schwere Erkältung Anna im Griff, und sie hatten alles versucht, eine Lungenentzündung zu verhindern. Der Arzt hatte eine schwere Bronchitis diagnostiziert und eindringlich darauf hingewiesen, dass das Kind warm gehalten werden und regelmäßig kräftige Nahrung zu sich nehmen müsse.

      »Wo ist Mutti?«, keuchte Anna und schnappte nach Luft. »Warum kommt Mutti nicht?«

      »Mutti ist sehr müde und schläft. Du weißt doch, dass sie um diese Jahreszeit immer starke Schmerzen hat.«

      Anna nickte ernst. »Muss Mutti sterben?«

      Schnell schloss Hedwig die kleine Schwester in die Arme.

      »Aber nein, Anna! Mutti braucht nur ein wenig Ruhe, morgen kommt sie wieder zu dir.«

      Elf Kindern hatte Auguste Mahnstein das Leben geschenkt, sieben hatten das Säuglingsalter überlebt: drei Jungen und vier Mädchen. Die ständigen Geburten hatten an Auguste gezehrt und sie zu einer kränkelnden Frau gemacht. Nach der Geburt des jüngsten Sohnes hatte Hedwig, damals selbst noch ein Kind, zufällig mitangehört, wie ihre Mutter zum Vater sagte, sie wolle nun niemals wieder ein Kind haben. Hermann Mahnstein hatte das mit versteinertem Gesicht zur Kenntnis genommen, und Auguste war seitdem auch nicht wieder schwanger geworden. Hedwigs Vater war Beamter in der preußischen Polizei, eine Tätigkeit, die er stolz und mit großer Strenge ausführte. Einer Strenge, die er auch zu Hause an den Tag legte und seine Kinder mit preußischer Disziplin erzog. Nicht nur Hedwig hatte Respekt und fürchtete sich vor dem Lederriemen, der im Schlafzimmer der Eltern an der Wand hing und mit dem alle Kinder der Mahnsteins regelmäßig Bekanntschaft machten. Gehorsam und Pflichterfüllung waren die obersten Gebote in diesem Haus. Nie hätte eines der Kinder gewagt, Widerworte gegenüber dem Vater zu äußern oder seinen Wünschen nicht sofort nachzukommen. Hermann Mahnstein war für die Sicherheit und das Wohl der knapp achttausend Einwohner der Stadt Sensburg in Masuren zuständig. Stolz trug er seine Uniform und den »Helm mit Spitze« und verbot seinen Kindern, die Kopfbedeckung »Pickelhaube« zu nennen. Seiner Ansicht nach war Pickelhaube eine respektlose und abwertende Bezeichnung, auf Amtsdeutsch war dieser Ausdruck auch nicht geläufig. Hermann Mahnstein hatte ein rundes Gesicht, und seine Ohren standen beinahe in einem rechten Winkel ab. Das sah lustig aus und erschwerte ihm manchmal, sich als Polizist den nötigen Respekt zu verschaffen. Deshalb trat er in seinem Haus besonders streng auf und sparte auch nicht mit Schlägen.

      Vor zweihundert Jahren waren die Mahnsteins aus dem Salzburger Land nach Ostpreußen gekommen, die Linie ihrer Vorfahren konnten sie weitere hundert Jahre zurückverfolgen. Einst trugen sie einen Adelstitel und verfügten über Landbesitz vor den Toren der heutigen österreichischen Stadt. Seit dem Westfälischen Frieden war die Familie protestantisch. Da Leopold von Mahnstein nicht bereit gewesen war, zum römisch-katholischen Glauben zurückzukehren, wurde ihm sein Besitz aberkannt und die Familie im Jahr 1732 aus Salzburg ausgewiesen. Ein Schicksal, das sie mit Tausenden weiteren Protestanten teilten.

      Der preußische König Friedrich Karl I. holte einen Großteil dieser Emigranten nach Ostpreußen, das durch eine verheerende Pestepedemie Anfang des 18. Jahrhunderts nahezu entvölkert worden war. Leopold von Mahnstein legte seinen Adelstitel ab, und um seine kinderreiche Familie zu ernähren, arbeitete er nunmehr als einfacher Bauer in der Nähe von Gumbinnen.

      Zwei Generationen später siedelte sich ein Mahnstein in Obermühlental an, heute ein Stadtteil von Sensburg. Dessen Nachkommen waren die letzten der Familie, alle anderen Zweige waren im vergangenen Jahrhundert ausgestorben. Hedwig, ihre Schwester Paula und ihr Bruder Karl waren noch in dem windschiefen, kleinen Haus in Obermühlental am südlichen Ufer des Junosees geboren worden.

      1910 erhielt Hermann Mahnstein von der Stadt Sensburg ein größeres Haus aus roten Backsteinen, nur von einer sandigen Promenade vom Schoß-See getrennt, dem größten See der Gegend. Die wachsende Kinderzahl machte es notwendig, ein größeres Heim zu beziehen, und Hermann Mahnstein wurde damit für seine Arbeit als Polizist belohnt.

      Hedwig liebte dieses Haus. Zwei Vollgeschosse, mehrere große, helle Zimmer, eine geräumige Küche, der zentrale Mittelpunkt der Familie; hinter dem Haus ein sonniger Garten, in dem sie Gemüse und Obst anbauten; an der anderen Seite des Hofes ein Schuppen und Stallungen, in denen sie Hühner hielten und täglich frische Eier hatten. Das Erste, was Hedwig sah, wenn sie nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute, war der See mit seinen uralten, mächtigen Weiden. Im Schilfrohr am Ufer nisteten im Frühjahr unzählige Vögel und Enten, in den warmen Monaten quakten die Frösche ohne Unterlass. Hedwig liebte Sensburg und Masuren. Irgendwann würde sie heiraten – das wurde schließlich von jedem Mädchen erwartet –, auf keinen Fall aber einen Mann, mit dem sie aus der Heimat fortgehen musste. Sich heute über eine Ehe den Kopf zu zerbrechen, war jedoch müßig, sie war ja erst fünfzehn Jahre alt.

      Hedwig flößte ihrer Schwester einen weiteren Löffel von dem dunkelbraunen, zähen Hustensaft ein. Anna verzog angewidert das Gesicht und schluckte widerwillig. Dann legte Hedwig ein frisches, mit kaltem Wasser getränktes, Tuch auf Annas fieberheiße Stirn und blieb auf der Bettkante sitzen, bis das Mädchen eingeschlafen war. Ein Schlaf, der dem Kind ein paar schmerzfreie Stunden bescherte und hoffentlich Besserung bringen würde.

      »Bitte nicht auch noch sie«, murmelte Hedwig. »Lieber Gott, sie ist doch noch so klein und unschuldig!«

      Der Arzt hatte zwar von keiner akuten Lebensgefahr gesprochen, seit ihrer Geburt aber war Anna ein zartes und schwächliches Kind. Ob Masern, Mumps oder Windpocken – in ihren jungen Jahren hatte Anna schon alle Krankheiten gehabt und unter den damit einhergehenden Beschwerden stärker gelitten als ihre Geschwister. Die Schwester zu verlieren, wäre mehr, als Hedwig ertragen könnte. Nicht auch noch Anna…

      Aufgeregte, laute Stimmen und das Geräusch, als würde eine Menschenmenge auf der Straße herumrennen, lenkten Hedwig von der Erinnerung an ihren Bruder ab. Unwillig runzelte sie die Stirn. Wer machte einen solchen Lärm? Hoffentlich wachte Anna nicht wieder auf. Sie öffnete das Fenster und blickte hinunter auf den Fußweg, der direkt neben dem Haus von der Uferpromenade aus in die Stadt hinaufführte. Vor einer halben Stunde noch war der Weg ruhig und verlassen gewesen, inzwischen war es dunkel, und Dutzende von Menschen strömten in die Stadt, ungeachtet des Nieselregens und der Kälte des Novembertags. Viele trugen Petroleumlampen oder Fackeln, ihre Gesichter leuchteten im Schein der Lichter, alle lachten und jubelten.

      Eine solch ausgelassene Fröhlichkeit war in den letzten vier Jahren selten geworden. Worte konnte Hedwig keine verstehen, sie spürte aber, dass etwas Entscheidendes geschehen sein musste. Über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg erkannte sie einen Lichtschein, der vom Marktplatz kommen musste. Sie schloss den Fensterladen, um die Geräusche zu dämpfen, und eilte nach unten. Was ging hier vor? Die Haustür wurde aufgerissen. Zusammen mit der eiskalten Luft strömte Karl Mahnstein in den langen, schmalen Hausflur.

      »Füße abtreten!«, wies Hedwig den ein Jahr jüngeren Bruder scharf zurecht. »Ich habe erst vorhin aufgewischt.«

      Karl kümmerte sich nicht um Hedwigs Ausruf. Er umarmte sie, hob sie mühelos hoch und wirbelte sie im Kreis herum. Trotz seiner Jugend war er einen Kopf größer als seine Schwester.

      »Es ist vorbei!«, schrie er, bevor Hedwig ihn ermahnen konnte, aus Rücksicht auf Anna keinen Lärm zu veranstalten. »Der Krieg ist aus! Vorbei, hörst du, Hedi? Es ist endlich vorüber!«

      Er stellte sie wieder auf die Füße, und Hedwig lehnte sich schwer atmend an die unverputzte Wand.

      »Was sagst du?«

      »Es stimmt.« Karl nickte mit geröteten