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Wie jeden Morgen saß Jerrik am Küchentisch, las die Tageszeitung und trank schwarzen Kaffee ohne Zucker aus seiner großen, weißen Mutmachtasse. Caro war bereits am Fuße der Treppe angelangt, während Mila noch vorsichtig Schritt für Schritt hinunterstakste.
»Kann ich dir helfen?« Lars’ Stimme klang heute äußerst charmant und etwas rauer als die vorherigen Tage, bemerkte Mila. Der junge Mann packte sie sanft an den Oberarmen und half ihr die Treppe hinunter. Er zog den Stuhl, auf dem sie die letzten Tage immer gesessen hatte, hervor und bat sie, Platz zu nehmen, bevor er ihr eine Tasse mit Kaffee, Zucker und viel Milch reichte, so wie sie es am liebsten mochte. Warum war er heute so aufmerksam? Mila war verwundert, auch wenn sie eine Ahnung hatte.
Am ersten Weihnachtsfeiertag hing Lars die ganze Zeit bei den beiden Freundinnen ab. Caro war schon etwas genervt, weil ihr kleiner Bruder so aufdringlich war, und stellte ihn zur Rede, als Mila kurz zur Toilette humpelte.
»Was soll das, Lars? Kannst du uns nicht mal allein lassen?«, fragte sie schnippisch.
»Mir ist langweilig. Was stört dich daran, wenn ich bei euch sitze?«, hakte er nach. Caro rollte mit den Augen.
»Stehst du etwa auf Mila oder was?«
»Selbst wenn … was geht dich das an?«, erwiderte er frech.
»Hallo? Sie ist meine Freundin, kapiert?« Caros Stimme klang nun ziemlich genervt, denn sie wollte die Zeit mit ihrer besten Freundin allein verbringen, damit sie in Ruhe über Jungs und Weiberkram tratschen konnten.
»Mann, Caro, bitte hilf mir!«, flehte er seine große Schwester an.
»Ja, wie denn?«, wollte sie wissen. Na ja, eigentlich wollte sie es nicht wissen, weil sie gar nicht vorhatte, ihm zu helfen.
»Weiß nicht. Hat sie einen Freund oder ist sie verliebt oder dergleichen?«, bat er seine Schwester um Auskunft.
»Einen Freund hat sie nicht, soweit ich weiß. Mehr kann ich dir nicht sagen«, teilte ihm Caro mit und erklärte das Thema damit für beendet.
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Am Abend saßen die drei zusammen auf der Couch im Wohnzimmer und schauten einen Horrorfilm. Caro war bereits eingeschlafen, sie hatte wohl etwas zu viel Glühwein getrunken. Ihr Kopf lag auf einem der roten Sofakissen und sie sabberte im Schlaf.
Agatha hatte nach dem Abendbrot das Haus verlassen, um ihre Großtante im Altersheim zu besuchen. Die alte Dame war mit ihren 98 Jahren nicht der einfachste Umgang, weshalb sie sie auch immer allein besuchte, denn zu viele Leute auf einmal verwirrten die Rentnerin. Jerrik hatte sich in sein Büro zurückgezogen und ging weiterhin Drehbücher durch.
Als er in die Küche schlich, um sich einen kleinen Snack zu holen, schaute er auf dem Rückweg zum Wohnzimmer hinüber. Durch die breite, offene Flügeltür konnte er auf die Rückseite des Sofas blicken. Mila und Lars saßen dort und starrten auf den großen Flachbildfernseher, der gegenüber an der Wand hing. Tosendes Geschrei ertönte, denn die Hauptperson im Film wurde von einem Geist verfolgt. Lars schaute zu Mila, beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. Jerriks Brust schnürte sich zusammen und sein Herzschlag stieg rapide an. Verstört starrte er Lars und Mila an. Er hoffte, Mila würde ihn angewidert von sich wegstoßen. – Moment mal, das war immer noch sein Sohn, der sie da gerade küsste. War er etwa so dermaßen in sie verliebt, dass er wegen ihr sogar seinen Sohn schlechtredete? Er konnte sich nicht erinnern, in seinem ganzen Leben jemals so eifersüchtig gewesen zu sein wie in diesem Augenblick.
Jerrik hatte das Gefühl, der Moment würde ewig dauern, doch plötzlich stieß Mila den jungen Mann, der sie gerade ohne Vorwarnung geküsst hatte, von sich.
»Tut mir leid, Lars, aber … ich hab schon einen Freund.« Hastig wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund.
Jerrik traute seinen Ohren nicht. Hatte Mila etwa doch einen Freund? Wie konnte er nur so töricht gewesen sein? Natürlich hatte so ein hübsches Mädchen einen Freund! Er kam sich so dumm vor. Während er einen Schritt vorwärts machte, hörte er Mila fortfahren: »Lars, du bist wirklich toll, aber eigentlich stehe ich auf ältere Männer.«
»Was hat ein alter Opa, was ich nicht habe? Siehst du in deinem Freund etwa deinen Vater?«, fragte er mit einem gekränkten, aber auch fiesen Unterton.
Mila lächelte sanft und erinnerte sich an ihren Vater. »Mein Vater ist schon lange nicht mehr auf dieser Welt. Und mein Freund erinnert mich auch nicht an ihn, aber … dennoch bietet er mir diese Wärme, die ich immer vermisst habe«, sagte sie, während ihre Augen an Lars vorbeiwanderten in den Flur, wo Jerrik stand. Ganz verliebt lächelte sie ihn an, als hätte sie gewusst, dass er dort verweilte und ihnen lauschte.
»Wohin schaust du? Ist ja voll gruselig«, sagte Lars kratzbürstig und drehte sich um. Jerrik war allerdings schon in seinem Büro verschwunden.
»Siehst du Geister, oder was?«, feixte Lars.
Ihre kalten Hände reibend drehte sich Mila wieder zurück. Sie fühlte sich so gut in Jerriks Nähe, doch war es nicht auch ein bisschen bizarr? Um all die Zweifel zu verscheuchen, schüttelte sie sachte den Kopf.
Unterdessen wachte Caro wieder auf. Im Fernsehen lief bereits der Abspann des Films und ihr Bruder stand auf, nahm den letzten Schluck seines Biers und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in sein Zimmer.
»Sollen wir auch ins Bett gehen?«, schlug Caro vor, streckte sich und gähnte so laut, dass es durch das ganze Haus hallte.
»Ja, lass uns schlafen gehen.«
Kapitel 6
Am zweiten Weihnachtsfeiertag frühstückte Mila zum letzten Mal im Hause der Anderssons, was sie ziemlich traurig machte. Sicherlich konnte sie Caro jederzeit besuchen, doch es wäre nicht dasselbe. Sie vermisste Jerrik jetzt schon. Es hatte sich beinah so angefühlt, als würden sie zusammen wohnen. Noch kannten sie sich nicht richtig, aber trotzdem war bei beiden von Anfang an dieses vertraute Gefühl da gewesen. Ihre gemeinsamen Träume hatten natürlich auch dazu beigetragen. Dadurch wusste Mila, die an solche Dinge glaubte, nun sicher, dass Jerrik ihr Seelenverwandter war.
Nach dem Frühstück packte Mila ihre Sachen zusammen und half ihrer Freundin dabei, das Zimmer aufzuräumen. Als sie fast fertig waren, kam Jerrik vorbei und teilte ihnen mit, dass er die deutsche Studentin nach Hause fahren würde.
»Ach, das ist aber lieb von dir, Papa. Mit dem Auto zu fahren ist weitaus bequemer. Dann muss ich Milas Sachen nur vom Auto zu ihrer Wohnung tragen. Die Busse und Bahnen sind immer so überfüllt. Und danach können wir ja zusammen zum traditionellen Familientreffen in unser Stammrestaurant fahren«, schlug Caro vor.
»Ähm, tut mir leid. Ich habe noch viel zu tun und werde deshalb nicht am Weihnachtsessen teilnehmen.«, erklärte Jerrik.
»Was? Echt jetzt?«, fragte seine Tochter enttäuscht.
»Ich werde Mila nach Hause fahren und mich dann mit meinem Manager treffen«, erläuterte er.
»Am zweiten Weihnachtsfeiertag? Wieso das denn plötzlich?«, entgegnete Caro schnippisch.
»Sei nicht sauer, Kleines.« Jerrik gab seiner Tochter einen sanften Kuss auf die Stirn und brachte Milas Gepäck zum Auto.
»Meine Güte, warum muss er gerade immer so viel arbeiten? Das nervt total«, murrte Caro enttäuscht und wütend. Mila tätschelte ihr die Schultern und versuchte, sie mit einem Lächeln zu beruhigen. Die Freundinnen verabschiedeten sich mit einer liebevollen Umarmung und Küsschen, nachdem sie ausgemacht hatten, gemeinsam Silvester zu feiern.
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Mila saß auf der Beifahrerseite des schwarzen Porsche, klammerte sich an ihren Krücken fest. Weder sie noch Jerrik bekamen ein Wort heraus. Der Motor schnurrte wie ein zahmes Kätzchen, während sie durch die Stadt zum Studentenwohnheim fuhren. Beide waren sichtlich angespannt und starrten durch den leichten Schneefall geradeaus auf die Straße, bis Jerrik das