Nach einer gefühlten Ewigkeit erkannte ich, dass ich mich in einer Bibliothek befand. Die Regale reichten bis unter die Decke und waren damit so hoch, dass ich die obersten Reihen nicht mehr sehen konnte. Es gab hier nicht nur Leitern, die man an den Wänden entlangrollen konnte, sondern noch eine Art Gang, der es einem erlaubte, hoch über dem Boden die in der Dunkelheit befindlichen Bände ebenfalls durchzusehen. Die einzige für mich wahrnehmbare Lichtquelle war ein offener Kamin, in dem ein großes Feuer brannte und das in mir den Gedanken auslöste, dass so ein Feuer eigentlich nichts in einer Bibliothek verloren hatte.
Eine winzige Bewegung zu meiner Linken, unterhalb eines mächtigen, mit dunklen Vorhängen verhängten Fensters, zog meine Aufmerksamkeit auf jene Person, die nun einen knappen Schritt auf mich zumachte.
»Miss Hunter«, sagte eine männliche Stimme gedämpft.
Nun muss ich gestehen, dass ich nie eine bemerkenswerte Kennerin von Stimmen gewesen bin. Gesichter kann ich mir perfekt merken. Ich erkenne Männer selbst dann noch, wenn Jahre seit unserem letzten Treffen vergangen sind und sie sich mittlerweile einen Vollbart haben stehen lassen. Wie sehr ich aber auch versuchte, jenes Gesicht einzuordnen, zu dem diese Stimme gehören mochte – es misslang.
Noch immer maskiert, sah ich nur die äußere Form des Mannes, die noch dazu von einem wallenden Gewand umflutet wurde. Wie besessen ging ich die Liste meiner Liebhaber durch. Auf wen passte dieses Aussehen? Wem war eine solche Entführung zuzutrauen?
»Was wollen Sie von mir?«, stieß ich hervor. Was auch immer mich in diesem Moment antrieb, seine Haltung, seine ganze arrogante Art sowie der überhebliche Auftritt, brachten mich auf die Palme. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich nichts weiter war in diesem Moment, als seine Gefangene, sein Entführungsopfer.
»Zunächst, Sie als Gast in meinem Haus begrüßen.«
»Fabelhaft. Ich erwidere den Gruß und würde mich dann auch gern gleich wieder verabschieden«, sagte ich zickig.
»Miss Hunter ...« Die Tonart, mit mir wie mit einem tumben Kind zu reden, besänftigte mich nicht gerade.
Er trat einen Schritt auf mich zu. Jetzt konnte ich sogar das sanfte Glänzen seines Gewandes wahrnehmen. Es ärgerte mich, dass ich keine Chance hatte, wenigstens seine Augen zu sehen oder seine Brauen. Nichts. Gar nichts konnte ich erkennen. Wie in einem Horrorfilm sah ich statt der Augäpfel nur dunkle Höhlen.
»Mr MacNeill hat Ihnen ja bereits erklärt, dass wir Ihre Hilfe benötigen ...«, setzte er an.
»Und wenn schon! Hören Sie mir mal gut zu, Sie Robin Hood für die Westentasche ... Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich gern behilflich bin. Aber ich bin es nicht gewohnt, dass man mich zu diesem Zweck betäubt und mich dann quer durch das ganze Land entführt. Also ... Wenn Sie meine Hilfe wollen, dann sehen Sie zu, dass ich so schnell als irgend möglich wieder in London lande.«
Robin war jetzt so dicht vor mir, dass ich sein Aftershave riechen konnte. Es roch teuer. Es war teuer. Unaufdringlich, dabei aber herb und männlich.
Erlebt eine Geisel es oft, dass der Entführer sie mit jedem Atemzug intensiver betört? Dass da nicht ein Hauch von Angst lauert? Voller Verwunderung stellte ich fest, dass genau das bei mir zutraf. Ich stand ihm gegenüber und beobachtete jede noch so winzige Bewegung, die er machte, und stellte mir dabei seinen Körper vor. Nackt. Wie es sich anfühlte, wenn der dünne schwarze Stoff über seine vom Sex erhitzte Haut glitt, wie die Berührung einer Frau mit ihren Fingerspitzen.
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