Trotz der späten Stunde hielt Lia ihre Beobachtungen fest. Sie wusste aus Erfahrung, wie schnell Eindrücke verblassten. Schließlich stand sie am offenen Fenster und starrte in die Nacht, lauschte dem Rauschen des Windes in den Blättern. Ihr ging viel durch den Kopf, sie war sich sicher, nicht einschlafen zu können, nahm die Kopfhörer und hörte das Band ab. Zwei Jahre als Gerichtsreporterin hatten sie gelehrt, genau zu beobachten, zu erfragen, was nicht zu sehen war. Das Band lief, sie erlebte die Szene mit den Geschwistern im Schulhof nochmals, die Eindringlichkeit der Blicke, als tauschten sie, ohne ein Wort zu verlieren, Botschaften aus, die andere ausschlossen. Lia versuchte, die Erinnerung zu schärfen, um nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Das Gehirn hält Belanglosigkeiten fest, von denen man zum Zeitpunkt der Beobachtung nicht ahnt, dass sie irgendwann Bedeutung erlangen könnten – so war ihr aufgefallen, dass sich Schnitt und Ausdruck der Augen trotz der unterschiedlichen Augenfarben glichen. Die Blicke, die sie sich zugeworfen hatten, waren von einer Intensität, als versinke der eine im anderen. Zwar hatte der Kontakt nur Sekunden gedauert, war aber mehrmals erfolgt. Der Trubel auf dem Schulhof hatte die beiden nicht gestört. Beeindruckt hatte Lia auch, dass der eine zu spüren schien, wenn ihn der andere suchte. Beim Frühstück mit Mutter und Geschwistern fragte sich Lia allerdings, ob sie ihre Beobachtungen nicht mit zu viel eigenen Vorstellungen angereichert hatte.
2. Der Wandel (Jan)
Jan war zwar schon im zweiten Semester, aber an die Doppelbelastung von Studium und Job hatte er sich noch nicht gewöhnt. Abends sank er erschöpft ins Bett, konnte häufig trotzdem keinen Schlaf finden. Wie das hin- und herschwingende Pendel der Standuhr im elterlichen Wohnzimmer kam immer wieder die Überlegung zum Vorschein, dass sein Gefühl für Inku über die normale geschwisterliche Zuneigung hinausging. Erinnerungen – Fenster in die Vergangenheit – gaukelten ihm wie in einer Endlosschleife Bilder vor, wie es angefangen hatte. Anfangen war nicht das zutreffende Wort, es hatte nicht begonnen wie eine Kinovorstellung, wenn das Licht gedimmt wird, die Zuschauer auf die Verzauberung durch laufende Bilder, Musik, Geräusche und Sprache eingestimmt werden, auf die exakt geplanten Handlungen auf der Leinwand warten.
Bei ihnen war es anders gelaufen, schließlich verläuft das Leben nicht nach einem Drehbuch, ihr Verhältnis hatte sich allmählich, beinahe unmerklich, verändert, in winzigen Schritten. Er merkte es erst, als er sich dem Sog der Geschehnisse nicht mehr entziehen konnte, ohne großes Leid in Kauf zu nehmen. Wohl hatte er die körperlichen Veränderungen wahrgenommen, sie waren ja auch nicht zu übersehen gewesen, aber sie waren für ihn lediglich Folgen des normalen Reifungsprozesses gewesen. Allmählich sickerte die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass die mit diesem Prozess einhergehenden Änderungen nicht nur Inkus Leben, sondern auch seines umkrempelten, zumal er begann, Einfluss auf sie zu nehmen.
In stillen einsamen Stunden holte sich Jan Szenen aus dem Gedächtnis vor Augen und ließ sie wie einem Film ablaufen. Eine Erinnerung schob die nächstfolgende zur Seite, bis eine die Oberhand gewann: die, als sich Inku von einem Tag auf den anderen weigerte, in Unterwäsche durchs Haus zu laufen. Hätte Mutter nicht darauf hingewiesen, es sei in ihrem Alter normal, es nicht zu tun, wäre es Jan wahrscheinlich nicht aufgefallen. Der eigentliche Wendepunkt aber war Inkus erste Regel. Auf ihren Schrei: »Mutti, ich blute, komm schnell!«, war Mutter herbeigeeilt, hatte so etwas wohl erwartet, nahm im Vorbeigehen Watte und eine Binde aus dem Arzneischrank, redete beruhigend auf das aufgeregte Mädchen ein. Jan, der in der Annahme, Inku habe sich verletzt, gelaufen kam, bedeutete Mutter mit einer Kopfbewegung, zu verschwinden.
Jan fand das Getue übertrieben, hätte es wohl vergessen, wenn Inku sich nicht von nun an anders verhalten hätte, sich launisch gab, oft richtig zickig wurde. Das hatte er nicht erwartet, bisher war sie ein vernünftiges cleveres Mädchen gewesen. Ein weiteres Zeichen für die Veränderung war das Versperren der Tür beim Waschen oder Duschen. Und als er eines Morgens in ihrem Zimmer über der Stuhllehne einen Büstenhalter hängen sah, betrachtete er ihn verdutzt. Brauchte sie so etwas auf einmal? Ein unerklärlicher Impuls, stärker als eine ihm selbst unerklärliche Scheu, veranlasste ihn, die darüber gebreiteten Strümpfe beiseitezuschieben und den BH mit spitzen Fingern aufzunehmen. Ein Duft stieg von dem luftigen rosa Kleidungsstück auf, er hob es zur Nase und sog das neuartige Parfüm mit zitternden Nasenflügeln ein. Noch nie hatte er die feine Mischung aus Körpergeruch und Schweiß wahrgenommen, es war ein herb-süßer Geruch, der ihn schwindeln ließ. Hinterher stellte er erstaunt fest, diese Aktion war unabhängig von seinem Willen erfolgt, es war ein Instinkt, und obwohl ihn niemand beobachtete, war er verlegen und legte das Wäschestück zurück.
Beim Frühstück steckte er Inku das Stück Schokolade vom Abend zu, das er sich für die Schule aufgehoben hatte. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, sie wunderte sich wohl, was der Anlass sein konnte. Verstohlen musterte er ihre kleinen gleichwohl unübersehbaren Hügel, die sich unter dem Pullover abzeichneten. Seine tastenden Blicke entgingen ihr nicht, errötend senkte sie den Kopf. Hatte er bisher Inku als Neutrum betrachtet, als kleine in letzter Zeit etwas schwierig gewordene Schwester eben, die er gern hatte, begriff er, dass sich das anhängliche kleine Mädchen zum launenhaften Teenager – er zögerte, den Ausdruck auf Inku anzuwenden – gewandelt hatte. Ihr körperlicher Reifungsprozess schritt unübersehbar voran, er ahnte, das Verhältnis zwischen ihnen würde von nun an nicht mehr so sein wie bisher. Nicht vorauszusehen war, dass sich die Vermutung so schnell bestätigen würde.
Blätterte er im Tagebuch, sah er, dass nicht allein der Zeitpunkt der Veränderung entscheidend war, sondern dass die Begleiterscheinungen die Situation beschleunigten. Es gelang ihm nicht, in das Chaos der neuartigen und mitunter schockierenden Gefühle eine Struktur zu bringen. Noch wehrte er sich gegen die sich ins Bewusstsein drängenden Bilder, die nicht nur im Traum erschienen, sondern ihn auch tagsüber beschäftigten. Je vehementer er die aufblitzenden Momentaufnahmen verdrängte, desto intensiver erschienen sie in abgewandelter Form erneut. Woher hätte er wissen sollen, dass es ungeheurer Anstrengung bedarf, Vorstellungen zu bekämpfen, wenn das Gehirn Botenstoffe als Belohnung ausschüttet, die Lustgefühle auslösen? Anerzogene Hemmungen und eine unerklärliche Scham verdrängten Szenen ins Unterbewusstsein, die gerade dann auftauchten, wenn er nicht darauf gefasst war. Die Szenen riefen Wünsche hervor, fachten Gelüste an, die neu waren und ihn ängstigten, weil er sie seiner für sein Alter schon recht festgefügten Gedankenwelt nicht zuzuordnen vermochte und weil sie allgemein gültigen Konventionen widersprachen. Das wurde ihm allerdings erst bewusst, als es bereits zu spät war.
In seinen Träumen lief das Geschehen natürlich anders ab und da es keinen Sinn macht, sich gegen Träume zu wehren und diese noch dazu teuflisch schön waren, ging er dazu über, sich vor dem Einschlafen Situationen in der Hoffnung vorzustellen, eines seiner Luftschlösser herbeizuzaubern, in dem sich Szenen aus der letzten Nacht fortsetzten. In einer Zeitschrift fand er einen Artikel über Traumyoga in Tibet, das man dort seit tausend Jahren praktizierte: Schlafende lernen erkennen, was sie träumen und sind durch nachhaltiges Training imstande, den Traum zu lenken. Jan ging es nicht nur um Wiederholung, sondern mehr um die Ausgestaltung von Traumsituationen, in denen Inku die Hauptrolle spielte. Der Artikel beschrieb, künstlerisch und spielerisch veranlagten Menschen gelinge es, so genannte Klarträume herbeizuführen; manche steigerten sich so hinein, dass sie die Klartraumwelt der Wirklichkeit vorzögen.
Sobald ihn derartige Fantasien heimsuchten, fragte sich Jan, so wie es der Artikel empfahl, ob er träumte und irgendwann übertrug sich die Frage tatsächlich in den Traum. Er übte, beim Aufwachen auf die Uhr zu gucken und zu testen, ob alles um ihn herum logisch und plausibel war. Nach Wochen gelang es ihm, Träume herbeizuführen und im Halbschlaf zu erfassen, dass er träumte. Wenn er sich konzentrierte, gelang es ihm, den verschlungenen Windungen des Gehirns ausgewählte Szenen zu entlocken. Er schaffte es, in lockende Situationen einzutauchen und sich in ihnen zu verlieren. Es war eine frivole Welt, in der sich Gefühle weder kontrollieren noch zügeln ließen, dort hatten sie genügend Raum, konnten sich ausleben. Er träumte sich Inku herbei, wie er sie sehen wollte, flog mit ihr über Städte, in denen sie