Verzweifelt blieb Svenja stehen. Sie hatten den Wagen abgegeben und ihr Zimmer war bestimmt schon anderweitig vergeben.
Svenja, beruhige dich! Du musst jetzt ganz cool überlegen, was zu tun ist!, sagte sie sich.
Ein kurzer Blick zu den Leihwagen. Auch dort eine riesige Menschenansammlung, nichts ging mehr. Erschöpft lehnte sie sich an ein Geländer. Was sollte sie als Erstes tun? Sie brauchte ein Bett. Das gab es hier in der Nähe bestimmt nicht mehr. Also eine Fahrgelegenheit. Die gab es auch nicht mehr.
Ihr kam Nico, der Besitzer ihrer kleinen Pension an der Südküste, in den Sinn. Er war ein netter Kerl. Vielleicht hatte er seine Zimmer noch nicht alle besetzt. Wenn ja, könnte er ihr eine Liege geben. Notfalls könnte sie dort auch am Strand schlafen. Aber wie sollte sie dahin kommen? Kein Leihwagen, kein Taxi. Mit dem Bus! Und welchem? Sie konnte ja nicht einmal die kyrillischen Zeichen auf den Anzeigeschildern der Busse lesen. Trampen. Das würde bestimmt funktionieren, aber mit Risiko, denn sie war eine blonde Deutsche – und dann in einsamer Landschaft des Gebirges über die Straße nach Süden … Egal! Sie brauchte eine Unterkunft!
Also ging sie zur Hauptstraße und stellte sich an den Rand und wartete in der Hitze, während sie ihren Daumen raushielt.
Ein Geländewagen kam. Zu spät erkannte sie, dass dort ein Mann am Steuer saß. Allein! Sie wollte ihren Daumen sinken lassen, aber der Typ hielt schon an.
»Where do you wanna go?«, fragte er. Dunkle Haare, Dreitagebart, kariertes Hemd, freundliches Gesicht.
»I … I must go to the southcoast«, radebrechte sie. Warum sprach sie nur so schlecht Englisch als Lehrerin? »Äh … First some kilometers to the west, threre is the exit to the south.«
»Sie sind Deutsche?«, fragte er.
Svenja nickte. Der Kerl war also auch Deutscher. Was für ein Glück!
»Ja, können Sie mich bis zur Abfahrt der Straße an die Südküste mitnehmen?«
»Wenn Sie wissen, wo Sie rausmüssen, steigen Sie ein.«
Er nahm seine Reisetasche vom Beifahrersitz, um ihr Platz zu machen.
Svenja stieg ein und er fuhr los. Unauffällig betrachtete sie ihn. Er beachtete sie nicht, konzentrierte sich auf den Verkehr.
»Ich glaube, es ist die dritte Ausfahrt«, sagte sie. Wenn sie sich den Weg doch besser gemerkt hätte, als sie mit Maria hier entlanggefahren war!
Das Gelände rechts und links der Autobahn war vollkommen zugebaut, die Ausfahrten dicht hintereinander. Als sie sich der dritten näherten, verlangsamte er das Tempo.
»Sie sind sicher, dass Sie hier rauswollen?«
Svenja sagte nichts. Sie war sich überhaupt nicht sicher!
Aber dann war er schon abgebogen. Es kamen mehrere Verkehrsinseln in Sicht, wo er anhielt. Svenja bedankte sich und stieg aus. Sie waren immer noch mitten in städtischem Gebiet. Verloren stand sie auf der Insel herum und hatte nicht die geringste Ahnung, was sie nun tun sollte.
Der Typ im Geländewagen war noch nicht weggefahren, offensichtlich hatte er ihre Situation erkannt. Die Autofahrer hinter ihm hupten. Schließlich bog er verbotswidrig nach rechts und hielt wieder neben ihr. Wortlos stieg sie ein.
Er fuhr ein paar Straßen entlang und hielt vor einem Straßencafé.
Überrascht sah Svenja ihn an.
»Hier trinken wir erst mal einen Kaffee. Ich lade Sie ein«, sagte er und zeigte dem Kellner zwei Finger.
Dieser nickte.
Direkt neben dem Auto nahmen sie an einem der Tische Platz.
Der Mann wandte sich ihr zu. »Und jetzt erzählen Sie mal: Was ist los und wo wollen Sie hin?«
Am liebsten hätte Svenja losgeheult, riss sich aber zusammen und berichtete von ihrer misslichen Lage. Der Mann holte eine Karte aus seinem Wagen und breitete sie auf dem Tisch aus, während der Kaffee gebracht wurde.
»Wir sind hier.« Er zeigte mit dem Finger auf die Karte. »Diese Straße führt tatsächlich nach Süden, aber nicht bis zur Küste. Ihre Straße ist dort. Sie hätten nach Osten fahren müssen.«
Hilflos sah sie ihn an.
Er klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und sagte: »Jetzt trinken Sie erst mal einen Raki, das ist ein griechischer Schnaps. Der Tsikoudia ist hier auf Kreta besonders gut.« Er orderte das Getränk, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Dann machte er einen Vorschlag: »Entweder, ich fahre Sie zurück bis zur Hauptstraße nach Süden, wo wir etwa gegen halb fünf ankommen werden. Wobei ich nicht weiß, ob das eine gute Idee ist, dann noch den Weg an die Küste anzutreten, denn die werden Sie nicht im Hellen erreichen. Oder Sie kommen mit zu mir. Ich habe im Westen im Gebirge ein Appartement gemietet, da ist Platz für vier Personen. Sie schlafen unten, ich oben. Da können Sie bleiben, bis der Streik vorbei ist.«
Svenja kippe den Schnaps hinunter und schenkte sich sofort einen neuen ein, den sie auch gleich schluckte. Sie hatte ja wohl keine Wahl …
»Machen Sie mir das Angebot, weil Sie sich die eine oder andere Nacht mit mir erhoffen?«, fragte sie ihr Gegenüber ganz direkt.
Der lachte. »Ich werde Sie packen, Ihnen die Klamotten vom Leib reißen und über Sie herfallen!«
»Sie nehmen mich nicht ernst!«
»Entschuldigung. Aber ich bin nicht auf Kreta mit der Erwartung auf irgendwelche Abenteuer. Ich werde Sie nicht anrühren!«
Svenja schwieg einen Moment, lächelte dann, als sie sagte: »Sie finden mich also unattraktiv?«
»Das nicht«, grinste er, »aber wirklich, Sie schlafen unten und ich oben. Sonst nichts. Versprochen.«
Sie spielte mit dem Glas und nach einem Moment des Überlegens sagte sie: »Okay, ich nehme Ihr Angebot an.«
Er bezahlte. »Gut, dann lass uns los. Ich bin Hannes.«
»Svenja«, stellte sie sich vor.
Gemeinsam stiegen sie wieder ein.
Verstohlen betrachtete Svenja den Mann am Steuer. Sie konnte nichts Nachteiliges feststellen. Er war nett, höflich, redete nicht so viel. Hinter den Sitzen war ein größerer Gegenstand verstaut, flach, etwa ein Meter im Quadrat, eingehüllt in eine dazu passende Tasche. Aber auch das schien ihr nicht gefährlich.
»Warum hast du denn als einzelner Urlauber ein so großes Appartement gemietet?«, wollte sie dann doch wissen. Das zumindest erschien ihr ungewöhnlich.
»Das ist das Einzige, zu dem eine Dachterrasse gehört«, sagte er lächelnd.
»Du magst also Dachterrassen?«
»Ich sitze gern da oben. Man hat einen wunderbaren Blick auf das Gebirge und runter bis zum Meer.«
Soso, dachte Svenja, fragte aber nicht weiter nach.
Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Hannes bog von der Autobahn ab. Über kleinere Straßen ging es ins Landesinnere, wo sie verschiedene Dörfer passierten und dann hinauf ins Gebirge fuhren. Ab und zu konnte Svenja neben der immer schmaler werdenden Straße die eine oder andere Hütte erkennen. Geläut von Viehglocken und Hundegebell war zu hören und weit unten im Tal waren die Lichter der Stadt zu erkennen. Mühsam arbeitete sich der Landy den steilen Weg hinauf. Es war sehr einsam hier. Und dunkel …
Ein mulmiges Gefühl beschlich Svenja. Wenn Hannes hier anhielt und über sie herfiele, würde das kein Mensch mitkriegen …
Nein, das würde er nicht tun. Und wenn doch? So weit konnte sein Appartement doch nicht entfernt sein! Sie waren vor über dreißig Minuten von der Autobahn abgebogen, und irgendwelche Hinweisschilder zu einer Pension in den Bergen konnte sie auch nicht sehen.
Die Straße wurde immer schlechter. Svenja suchte nach