»Am 25. August, also vor nicht ganz einem Jahr, war es endlich so weit: Gerda hat dich zu mir geschleift, du warst völlig aufgelöst und hattest blaue Flecken. Manfred und seine beiden Freunde hatten dich wieder einmal vergewaltigt und sind danach für vier Tage auf Weiterbildung gefahren. Wir sind erst einmal mit dir zu einem Arzt gefahren, der dich eingehend untersucht und ein paar Proben genommen hat. Du bist über das Wochenende bei Gerda geblieben und wir haben die Scheidungspapiere und die Anzeige vorbereitet. Als ich am Montag Anzeige erstatten wollte, hast du wieder einen Rückzieher gemacht und gemeint, dass wir das besser bleiben lassen sollten, da sowohl Manfred als auch Kurt bei der Polizei seien. Die Scheidung wolltest du durchziehen, dir allerdings vorher erst noch eine neue Bleibe suchen, was nicht länger als drei Wochen dauern sollte. Wir haben uns schließlich darauf eingelassen – leider. Ein schwerer Fehler, wie sich schließlich herausgestellt hat.«
»Fehler? Wieso?«
»Weil du dich von ihm hast wieder einwickeln lassen«, erwiderte Gerda verärgert. »Wie wir über Umwege erfahren haben, hat dich Susanne bei einem deiner Treffen mit Thomas beobachtet und geglaubt, er sei dein Liebhaber. Das hat sie natürlich gleich Maria und Manfred gesteckt. Der hat allerdings schnell Lunte gerochen und wurde plötzlich wieder zuckersüß. Er hat sich bei dir entschuldigt, es täte ihm so leid, er hätte sich völlig danebenbenommen und würde alles tun, um es wiedergutzumachen – bla, bla, bla. Er hat dich vollkommen eingewickelt, davon gefaselt, neu anzufangen, und gemeint, dass ein Kind dazu die beste Möglichkeit wäre.«
»Ein Kind?«
»Ja! Ihr habt es schon drei Jahre vergeblich versucht, irgendwie hat es nie geklappt. Und je länger es gedauert hat, desto aggressiver und brutaler wurde Manfred. Sicher auch angestachelt von Maria, die endlich einen Erben haben und Oma sein wollte«, erklärte Gerda. »Und du hast ihm den Schmarren abgenommen und damit die Scheidung auf die lange Bank geschoben.«
Vera senkte betroffen ihren Kopf. Düstere Erinnerungen kamen in ihr hoch. Erinnerungen, die sie für Albträume gehalten und die sie erfolgreich zu verdrängen gelernt hatte. Ja, das mit dem Kind war ein wunder Punkt, einer der sie schon länger verfolgt hatte.
»Eine Woche später bist du zu einer Verabredung mit Gerda nicht erschienen«, sagte Thomas. »Als sie daraufhin bei dir zu Hause angerufen hat, sagte Susanne, dass ihr beide kurz entschlossen zu deinem Geburtstag in die Karibik geflogen wärt – sie wusste allerdings nicht, für wie lange, weil alles so schnell gegangen sei. War offensichtlich eine kurzfristige Entscheidung. Ihr seid mit gepackten Koffern zum Flughafen nach München und wolltet von dort ein Last-Minute-Angebot suchen. Mehr konnte sie uns nicht sagen.«
Gerda schnappte sich eine Mappe und begann darin herumzublättern. »Am 13. September letzten Jahres seid ihr verschwunden. Als ich nach zwei Wochen noch nichts von euch gehört hatte, habe ich bei deiner Bank nachgefragt, und die wussten ebenso von nichts – du hattest nicht einmal Urlaub beantragt, sondern warst einfach nicht zur Arbeit erschienen. Anfangs waren die recht sauer, allerdings machten sie sich auch schon langsam Sorgen. Am nächsten Tag sind wir zur Polizei, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Kurt, der Busenfreund von deinem Manfred, wollte die Anzeige zuerst gar nicht annehmen und ist mit allen möglichen Ausreden gekommen. Thomas hat sich dann als dein Anwalt zu erkennen gegeben und den leitenden Beamten verlangt. Der konnte unsere Bedenken verstehen und hat die Vermisstenanzeige schließlich persönlich aufgenommen – sichtlich sehr zum Ärger vor Kurt.«
»Eine Woche später erhielt Gerda von der Polizei die Information, dass ihr einen zehntägigen Urlaub für Venezuela gebucht und offensichtlich vor Ort verlängert hattet«, führte Thomas aus. »Der Rückflug sollte drei Tage später erfolgen, hatten sie recherchiert, aus deinen Kreditkartenabrechnungen ergab sich nichts Auffälliges. Damit war die Sache für die Polizei erst einmal erledigt. Kurt meinte nur hämisch, wir sollten uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern und euch in Ruhe lassen.«
»Ich habe eine Woche gewartet und als ihr dann noch immer nicht zurück wart, bin ich erneut zur Polizei«, setzte Gerda fort. »Sie gaben mir zwar recht, dass alles doch recht ungewöhnlich sei und sie der Sache nachgehen würden, getan haben sie aber offensichtlich nichts. Ich war ein paarmal bei Maria und Susanne, die sich auch schon Sorgen machten, sich allerdings langsam auf dich einschossen und dir die Schuld zuschoben, dass sich ihr herzallerliebster Manfred nicht meldete. Dabei rutschte Susanne heraus, dass du einen Liebhaber hättest – Thomas, wie sie dachte – und sie kannte kein Halten mehr- Von deinem Chef habe ich in der Folge ein paar von Manfreds Kreditkartenabrechnungen zugesteckt bekommen – vertraulich, ich durfte natürlich niemandem sagen, woher ich die hatte. Daraus ging hervor, dass ihr zunächst wirklich am 13. September nach Venezuela geflogen seid, ganz so, wie es der Reiseveranstalter der Polizei gegenüber angegeben hatte. Am 23. seid ihr jedoch nach Jamaika geflogen und habt dort ... äh, in einem Swingerhotel eingecheckt.«
»Swingerhotel?«, fragte Vera verblüfft.
»Ja, das hat mich auch gewundert, doch es kommt noch besser – oder schlimmer: Am ersten Oktober gab es einen weiteren Flug, nach Mexiko. Dort seid ihr in einem weiteren Swingerhotel abgestiegen. Eine knappe Woche später ist eine Barabhebung von neuntausend Euro verzeichnet, das war vorläufig die letzte Buchung. All das ist auf Manfreds Karte gelaufen – von deiner waren bis dahin nur zwei Flugtickets und eine Hotelrechnung abgebucht worden. Später hat sich herausgestellt, dass ihr am 8. Oktober nach Brasilien geflogen seid und dort in einem Hotel in São Paulo eingecheckt habt. Wenig später, am 13., seid ihr plötzlich in Rio und am 18. in Recife aufgetaucht – dazu gibt es wieder Belege, jetzt auf deiner Kreditkarte. Am 25. Oktober wurde über die auch ein Auto angemietet.«
»Ein Mietwagen in Brasilien?«, unterbrach Vera ungläubig.
»Ja, der wurde für eine Fahrt von Recife nach Natal gemietet, angeblich von einem Brasilianer, und mit deiner Kreditkarte bezahlt.«
Nun übernahm Thomas wieder und erzählte: »Am achten November hat mich die Polizei kontaktiert und mir mitgeteilt, dass sie die Sache jetzt mit Nachdruck verfolgten. Sie hätten die Kreditkartenunterlagen von der Bank angefordert und da wären ein paar Auffälligkeiten dabei. Ob wir inzwischen irgendetwas von euch gehört hätten? Ich habe mich zunächst dumm gestellt und nur gemeint, dass wir nach wie vor nichts wüssten. In der Folge habe ich meine Kontakte beim Auswärtigen Amt spielen lassen sowie einen Bekannten kontaktiert, der beruflich viel in Brasilien ist, und ihn um Unterstützung gebeten. Im Dezember gab es erneut wöchentliche Barabhebungen mit Manfreds Kreditkarte – insgesamt waren das nun 45.500 Euro. Die Bank sperrte daraufhin eure Kreditkarten – was ich übrigens schon viel früher vorgeschlagen hatte, um damit eine Reaktion von eurer Seite zu erzwingen. In der ersten Januarwoche tauchte das bereits erwähnte Video auf und hat für einige Aufregung gesorgt.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich Maria und Susanne aufgeregt haben!«, erklärte Gerda. »›Schlampe‹ und ›Flittchen‹ waren noch die freundlichsten Begriffe, die sie für dich übrig hatten. Besonders Susanne hat sich ausgiebig über dich ausgelassen. Sie hätte immer schon gewusst, dass du nichts für Manfred wärst, und dass du bei dem Umgang keine Kinder kriegen könntest, sei wohl logisch. Als ich dagegengehalten habe, dass dieses Video etwas ganz anderes zeigt und du von Manfred mehrfach vergewaltigt wurdest, sind die beiden regelrecht explodiert und haben sich wie die Furien aufgeführt. Ein paar Tage später habe ich von einem Rechtsanwalt die Aufforderung erhalten, meine Behauptungen öffentlich zurückzunehmen, andernfalls würden sie mich wegen Verleumdung verklagen.«
Schließlich ergriff Thomas wieder das Wort: »Am 16. Januar kam über das Auswärtige Amt die Meldung, dass bereits am 21. November eine männliche Leiche in einem Mietauto in der Nähe von Pirpirituba gefunden worden war. Es hat offenbar eine Weile gedauert, bis dort jemand die Informationen weitergeleitet hat.«
»Pirpirituba – ja, das kenne ich, das ist die nächste größere Stadt bei Sertãozinho«, unterbrach Vera.
»Gut, jetzt wissen wir also, dass das zusammenpasst. Die brasilianische Polizei gab sich sehr zurückhaltend und meinte nur, dass der Fund von Manfreds Papieren bei der Leiche auf seine Identität