Oliver stellte mir die Frau als Lydia vor. Sie sollte bald im Club im Barbereich und als DJane arbeiten. Ich nickte ihr zu und lächelte freundlich.
»Du kümmerst dich also um die alten Bilder. Wie nett!«, sagte sie und lachte auf, als sei das eine eher überflüssige Beschäftigung.
Ich ging nicht auf ihren abfälligen Kommentar ein und hielt mich stattdessen an Oliver. »Es läuft ganz gut. Ich müsste allerdings nochmals Firnis und Goldlackfarbe bestellen.«
»Kein Problem. Ich melde mich demnächst mal bei dir und dann reden wir über die Sache.«
Ich lächelte ihm zu und machte dann auf dem Absatz kehrt, um in meinem kleinen, abgeschiedenen Restaurationsbereich zu verschwinden.
Hier stellte ich mich vor die Christus-Johannes-Skulptur und betrachtete sie eingehend. An der Skulptur war viel Farbe abgeblättert, sodass ich säubern, grundieren und neue Farbe auftragen musste. Aber die beiden aneinandergelehnten Figuren hatten dabei nichts von ihrer Ausstrahlung verloren. Heinrich von Konstanz hatte sie ursprünglich um 1280 für das Dominikanerinnenkloster St. Katharinental am Oberrhein angefertigt. Der Kopf von Johannes lag so auf der Schulter von Christus, dass sein Hals überdehnt und abgeknickt aussah. Johannes hatte seine rechte Hand in die seines Vetters gelegt. Die Gewänder der Figuren suggerierten von Stoffführung und Faltenwurf her eine tiefe Einheit der beiden Weggefährten. Diese wurde obendrein durch die Goldbeschichtung und die komplementären Farben Rot und Grün betont.
Unweigerlich dachte ich an Henri. Innerlich träumte ich davon, dass zwischen ihm und mir eine ähnlich warmherzige Verbindung entstehen könnte, wie ich sie hier in Holz geschnitzt vor mir sah. Ein solches Ineinander-gelehnt-Sein. Johannes’ Augen waren geschlossen und Christus hielt seinen Gefährten im Arm. Für einen Moment ließ ich mich hinreißen, gab mir dann aber einen Ruck: Erst musste ich hier noch weiterkommen. Die Vorfreude darüber, dass ich ihn heute nach der Arbeit wiedersehen würde, machte sich als ein aufgekratzt-kribbelndes Gefühl in mir breit.
***
Als es endlich sechzehn Uhr war, drückte ich auf die Tube. Auf dem Fahrrad geriet ich ins Schwitzen – eher wegen der Aufregung als der Anstrengung.
Wir waren an der S-Bahn-Station Treptower Park verabredet. Als ich ihn sah, kam er mir für einen kurzen Augenblick fern und fremdartig vor. Seltsam, ich musste mich wohl erst wieder an ihn gewöhnen. Wir begrüßten uns herzlich, küssten uns auf den Mund. Dann schlossen wir unsere Räder an einem Fahrradständer zusammen und spazierten zu Fuß durch das S-Bahn-Gebäude hindurch in den Park. Er schlug vor, zur »Insel der Jugend« zu gehen, weil es dort so idyllisch wäre.
Als wir dort ankamen, kauften wir uns an einer Getränkebude zwei Fritz-Limo Melone – »Geschmack selten« stand auf dem Etikett – und setzten uns ans Wasser. Ich hatte mich sehr auf unser erneutes Date gefreut und war jetzt ganz neugierig darauf, ihn näher kennenzulernen.
Nach ein paar einleitenden Worten sprach er ein brisantes Thema an. Er eröffnete mir, dass er nicht auf biederen Blümchensex – was auch immer das heißen mochte – stehen würde, sondern nur auf ausgefallenere Praktiken.
»Ich mag eben nicht einfach nur so unter der Decke Sex haben, sondern experimentell sein. Ich stehe auf Verbalerotik und Fesselspiele und ich möchte mit dir alles Mögliche ausprobieren. Gegen ganz normalen Sex habe ich nichts, aber mir persönlich gibt das nicht viel. Bei mir muss immer die Fantasie mit im Spiel sein.«
Ich musste erst einmal schlucken. Unser letztes Zusammensein war mir noch gut in Erinnerung, ebenso wie seine führende, eigenwillige Art, aber dass er es jetzt so verbalisierte, erschreckte mich. Gegen erotische Spiele und Fantasien hatte ich eigentlich nichts einzuwenden, aber ich hatte darin keinerlei Erfahrungen.
Wir spazierten weiter durch den Park der Spreeinsel. Er erzählte mir einiges über sexuelle Kultur und darüber, wie sehr ihn die intensiven Momente ausgefallener Techniken und ausgedehnter Sexspiele erregten. Er sprach ganz ohne Hemmungen. Gebannt folgte ich seinen Ausführungen, auch wenn sich das alles für mich recht abstrakt anhörte. Ich hatte ja keine Ahnung, was sich wirklich etwa hinter Begriffen wie »Verbalerotik«, »Rollenspiele«, »dominant« und »devot« verbarg. Zu gern wollte ich ergründen, was sich da unter der Oberfläche abspielte. Insgeheim aber fragte ich mich, ob ich ihm vertrauen konnte. Da blieb etwas Unerklärliches, eine dunkle Ahnung, dass sich mehr hinter seiner freundlichen Art verbergen könnte, als er im Moment preisgab. Was wäre, wenn er nicht nur auf sanfte erotische Spiele, sondern auch auf härtere Spielarten stand? Dann wäre ich ihm hilflos ausgeliefert. Solche und andere Ängste ergriffen meinen Geist. Mein Gefühl war allerdings positiv und ihm durchaus zugewandt. Ich war ihm schon so verbunden, war bereits ein bisschen verknallt und natürlich auch neugierig. Ich wollte wissen, was sich hinter seinen Ankündigungen verbarg.
Wir tranken unsere Limonaden leer und schauten auf die Spree. Mir kam das alles verrückt vor, irreal, hier mit ihm herumzuspazieren, und dass er mir solche sexuellen Vorschläge machte. Hatte das alles noch etwas mit mir zu tun? Ich konnte es kaum glauben und stand auf dem Schlauch.
»Und. Kommst du noch mit zu mir?«, fragte er dann aus dem Nichts heraus, »oder bist du jetzt eingeschüchtert?«
»Ach, was«, sagte ich cool, nahm einen Schluck aus der doch schon leeren Flasche und blickte ihn an.
Für einen Rückzieher war ich zu stolz und eine bessere Antwort hatte ich in diesem Augenblick nicht parat.
***
In seinem leicht überheizten Loft zeigte er mir nochmals alle Räume: das Bad, sein Foto- und Tonstudio, das Schlafzimmer. In den meisten Zimmern roch es ungelüftet, doch fühlte ich mich dadurch nicht unwohl, im Gegenteil, seine Person schien überall präsent zu sein. Wir gingen in seine Küche, die aufgeräumt war und in deren Mitte ein Gasherd mit großer Abzugshaube stand. Die Küche war direkt mit dem Wohnraum des Lofts verbunden.
Ich ließ meine Augen wandern. Schon beim ersten Besuch waren mir die prunkvollen silbernen Kerzenhalter, die Leopardenfell-Kissenbezüge, die flauschigen Decken sowie die dunkelroten Vorhänge aufgefallen, die unterschwellig die Atmosphäre des Lofts prägten, und auch die Gerten und Peitschen in der Vase auf dem Schrank waren mir nicht entgangen. Doch nahm ich diese Gegenstände erst jetzt, nachdem mich Henri über seine Sexneigungen aufgeklärt hatte, bewusst wahr. Henri bemerkte meine fragenden Blicke und forderte mich provokativ auf, den Inhalt seiner Glasvitrine zu inspizieren, die zwischen Küche und Wohnraum stand. Er zog ein dunkles Samt-Tuch beiseite, das den Inhalt vor unbefugten Blicken schützte. Es offenbarte sich mir eine reiche Sex-Spielzeug-Sammlung, die er mir stolz vorführte: Dildos in allen möglichen Größen und Formen, etwa sehr kleine mit starker Vibration, wie er erklärte, und große aus Gummi, ein mittelgroßer aus Glas bestehender Analdildo, verschiedene Anal-Plugs, Augenbinden, Handschellen, Öle, Lederschnallen, Karabiner-Haken, Strümpfe, Masken und Dessous. Ich zuckte zurück. Eine geballte Sammlung erschreckender Möglichkeiten. Henri aber drückte mir einen roten mittelgroßen Gummidildo in die Hand.
»Na, wie fühlt sich der an?«, fragte er mich herausfordernd.
Er war rau und elastisch und unvermutet schwer. Wie ich ihn so in der Hand wog, kam ich mir vor wie im falschen Film. Ich stand steif da, wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Von solchen Liebes-Spielzeugen hatte ich bisher nur gehört und gelesen. Real war mir so etwas noch nie unter die Finger gekommen.
Henri sah, dass ich haderte und rettete mich aus meiner Hilflosigkeit, indem er den Dildo zurück in die Vitrine legte. Stattdessen wählte er eine Augenbinde aus.
»Das sollte für den Anfang erst einmal genügen«, sagte er und führte mich vor seinen Kamin.
Dort hing von der Decke eine Spreizstange mit zwei Lederschlaufen für die Handgelenke. Diese ließ er bis zur Höhe meines Kopfes herunter und steckte meine Hände in die weichen Schlaufen. Dann schob er die Augenbinde über mein Gesicht. Ich konnte kaum glauben, was hier gerade geschah, und doch hatte ich zugestimmt, als ich mich im Park so cool gezeigt hatte. So blieb ich stehen, brav wie ein Lamm.
Ich werde das hier gleich abbrechen, wenn es mir zu viel wird, sagte